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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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und ging die Kamera holen. Schaltete die Stehlampe neben dem Sofa an. Meine Hände zitterten, als ich den Deckel vom Objektiv nahm. Aber als ich den Apparat hob, erfüllte mich eine seltsame Ruhe, und ich machte die Aufnahmen, von denen ich wusste, dass sie notwendig waren. Ich hatte die Datumsanzeige eingeschaltet, damit es auf allen Bildern zu sehen war.
    Sobald ich fertig war, machte ich das Licht aus und fing wieder an zu weinen. Inzwischen war es fast dunkel. Ich legte eine Decke über ihn und betrachtete sein Gesicht. Er wirkte so friedlich, und sein Atem ging ruhig. Mich überkam das Bedürfnis, ihm meine Lippen auf die Stirn zu drücken und zuzuflüstern, alles werde gut werden. Ich würde dafür sorgen. Aber ich strich nur langsam mit einem Finger über seinen Arm, der auf der Decke lag. Seine Haut war trocken und kühl und mit Salz überkrustet. Ein Schauder durchlief mich, und ich merkte, wie kalt mir selbst war. Ich musste mich umziehen, doch ich wollte ihn nicht allein lassen. Ich erhob mich, nahm ihn auf den Arm, trug ihn in mein Schlafzimmer, steckte ihn ins Bett und deckte ihn gut zu. Seine Haare waren zu Stacheln getrocknet, die ihm vom Kopf abstanden. Irgendwie wühlte mich dieser Anblick erneut auf. Mir schien, dass dies den Eindruck seiner Verletzlichkeit noch verstärkte. Ich ließ die Tür offen, als ich hinausging, um den Kessel aufzusetzen und trockene Sachen anzuziehen.
    Später saß ich mit einem Becher Tee in der Küche und versuchte, den Tumult meiner Gedanken zu ordnen. Wenn ich mich nach seiner Familie erkundigt hatte, dann nur, um mich zu vergewissern, dass sie wusste, wo er sich aufhielt, wenn er bei mir war. Und er hatte mir nie etwas über sie mitgeteilt, sondern bloß genickt oder den Kopf geschüttelt als Antwort auf meine Fragen. Jetzt wurde mir klar, dass ich nichts über sein Leben wusste.
    Es gab doch sicherlich jemanden, den ich anrufen musste. Jemanden, der sich Sorgen machte, der ihn vermisste. Es war schon spät und wurde rasch dunkel.
    Meinem rationalen Ich muss klar gewesen sein, was zu tun war, doch da gab es noch einen primitiven Teil in mir, der nicht darauf hören wollte. Der ihn ganz instinktiv einfach nur beschützen, in Sicherheit wissen, ihn nie wieder aus den Augen lassen wollte.
    Andererseits wusste ich, dass es unumgänglich war, seine Angehörigen zu benachrichtigen.
    Aber ich kannte nicht einmal seinen Nachnamen und hatte nur eine vage Vorstellung davon, wo er wohnte.
    Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, ließ mich aufs Sofa fallen und wickelte mich in eine Decke. Als ob er spürte, dass ich fror, sprang Kasper zu mir herauf und legte sich neben mich.
    Was sollte ich nur tun?
    Irgendwann griff ich zum Telefon und rief George an, obwohl ich gar nicht so recht wusste, was ich damit zu erreichen hoffte. Als er nach einer Weile abnahm, klang er, als hätte das Läuten ihn überrascht. Ich hatte ihn im Laufe der Jahre höchstens ein Dutzend Mal angerufen und nie abends, sodass mir dieses Gespräch sowieso schon ein bisschen peinlich war. Aber George hörte einfach zu und stellte keine Fragen. Ich teilte ihm nur die nackten Tatsachen mit. Dass ich Ika im Meer gefunden hatte. Dass er schlief und es besser wäre, wenn er bei mir übernachtete. Und dass ich nicht wusste, wen ich benachrichtigen sollte.
    George kannte Ika. Ich hatte den Eindruck, dass er über uns und unsere gemeinsamen donnerstäglichen Mahlzeiten Bescheid wusste, obwohl er das nicht sagte. Vielleicht war es ja auch allgemein bekannt. Was wusste ich schon? Wieder hatte ich das Gefühl, nicht dazuzugehören, eine Außenseiterin zu sein, der die Verhaltensregeln der hier Lebenden nicht vertraut waren. Die anderen schienen alles über mich zu wissen, während ich praktisch nichts über sie wusste.
    George wusste auch, wo Ika wohnte, kannte seine Familie, die allerdings, wie es schien, nur aus einer Großmutter bestand. Er versprach, sie aufzusuchen, um mit ihr zu reden, und mich dann zurückzurufen. Ich erklärte ihm, Ika gehe es gut, und er könne gern über Nacht bei mir bleiben.
    Ich ging in die Küche, machte mir noch einen Tee, stellte leise Musik an und legte mich wieder aufs Sofa. Ich musste eingenickt sein, denn ich war einen Moment lang desorientiert, ehe mir klar wurde, dass das Telefon klingelte.
    George hatte mit der Großmutter gesprochen. Er räusperte sich und schien zu zögern, ehe er fortfuhr.
    »Sie macht sich keine Sorgen, und sie ist froh, dass er bis morgen bei Ihnen bleiben kann

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