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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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Reichweite über ihren Kopf. Schließlich bleibt sie an ihrem Fuß stehen und erkennt, dass keine Treppe, nichts, woran sie sich festhalten könnte, zu ihr hinaufführt. Da ist nur der glatte Beton des Fundaments. Sie kann sie unmöglich erklimmen. Als sie hochschaut, wird ihr klar, dass ein Sprung ins Meer sie umbrächte, selbst wenn sie hinaufgelangen würde.
    In diesem Moment entdeckt sie ihn. Und ihr wird so kalt, wie es ihm sein muss. Zitternd starrt sie auf seinen Kopf, einen Punkt auf dem stillen, bleiernen Wasser.
    Und weiß, dass es zu spät ist.
    Ihr ist sehr kalt, aber sie ist nicht mehr erfüllt von dem vertrauten lähmenden Grauen, sondern von der Gewissheit, dass alles vorbei ist.
    Diesmal endet der Traum anders. Er hört nicht an dieser Stelle auf.
    Nein, diesmal steht sie auf der Klippe und spürt, wie der Schmerz sich verflüchtigt. Er gleitet ihr von den Schultern wie ein Kleidungsstück.
    Denn sie erkennt, dass auch sie sich in den Abgrund fallen lassen kann. Und sie beginnt, langsam auf den Rand der Klippe zuzugehen.

8
    Das schnelle Tappen der Füße eines Opossums über das Metalldach weckte mich. Es war noch dunkel. Aus dem Schlafzimmer drang kein Laut. Ich lag still da und dachte nach. Ich hatte gehofft, beim Aufwachen genau zu wissen, was zu tun war. Ich musste mit der Großmutter sprechen, obwohl das die Dinge wahrscheinlich verkomplizieren würde. Ich wusste auch nicht, was ich Ika sagen sollte. Nichts hatte sich über Nacht geklärt.
    Ich hätte mir keine Gedanken machen müssen. Es kam überhaupt nicht darauf an, welche Entscheidungen ich traf. Welche Pläne ich schmiedete. Es war bereits eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt worden, und zwar in meinem Innern. Unabhängig von allen bewussten Überlegungen war mein Unterbewusstsein schon fleißig bei der Arbeit. Es folgte seiner eigenen Strategie, wie ich bald feststellen sollte.
    Ich musste wieder eingedöst sein und war mir nicht sicher, was mich diesmal weckte, denn seine Schritte waren geräuschlos. Ich spürte seine Anwesenheit mehr, als dass ich sie hörte. Als ich die Augen öffnete, fiel mein Blick auf die Gestalt am Fenster. Da stand er, mit dem Rücken zu mir, eine Silhouette vor dem kalten Morgenlicht draußen. Mit der Decke, die ihm in Falten von den Schultern bis auf den Boden hing, sah er aus wie ein kleines Zelt. Als er merkte, dass ich mich regte, ging er langsam quer durchs Zimmer, die Decke wie eine Schleppe hinter sich. Er setzte sich auf die Dielen, aber so weit entfernt vom Sofa, dass ich nicht nach ihm greifen konnte. Ich wartete darauf, dass er sprach. Er tat es nicht.
    »Ich freue mich, dass du hier bist«, sagte ich schließlich. Er erwiderte nichts.
    »Ist dir warm genug?« Er nickte. Er hatte sich die Decke eng um den Hals geschlungen.
    »Hunger?« Wieder nickte er.
    Also stand ich auf, zog mir meinen Wollpullover über mein Nachthemd und ging in die Küche.
    »Ist Suppe okay?«, fragte ich über meine Schulter hinweg. Ich hörte keine Antwort, aber dann tauchte er neben mir am Herd auf, die Decke immer noch mit beiden Händen haltend. Schweigend blieb er dort stehen, während ich die Suppe aufwärmte und den Tisch deckte.
    Wir setzten uns. Er kämpfte mit der Decke, die ihm immer wieder von den Schultern rutschte, als er sich auf den Stuhl mühte. Ich machte keine Anstalten, ihm zu helfen, sondern versuchte nur, jeden Blick auf seinen Hals zu vermeiden. Ich servierte die Suppe und schnitt Brot. Goss ein Glas Milch ein. Mit einer Hand die Decke haltend, begann er zu essen. Ich sah zu, wie er die Schüssel leerte, und füllte sie dann erneut.
    Als er aufgegessen hatte, lehnte er sich zurück und zog die Decke so hoch, dass sie ihm bis zu den Ohren reichte. Es war, als bräuchte er sie als eine Art Schutz, vielleicht gegen meine forschenden Augen.
    »Ika, ich muss dir ein paar Fragen stellen«, sagte ich. Er schaute an mir vorbei aus dem Fenster und entgegnete nichts. Es sah aus, als ob er ein bisschen schrumpfte. Und wieder war ich zu Tränen gerührt. Ich hatte keine Lust, dieses Gespräch – wenn man es überhaupt so nennen konnte – zu führen, denn ich wusste, dass er herzlich wenig dazu beitragen würde.
    »Was hast du gestern im Meer gemacht?« Wie erwartet, antwortete er nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun, wie ich fortfahren sollte.
    »Es war Donnerstag, und du wusstest, dass ich auf dich warte«, sagte ich und schreckte vor meinen eigenen Worten zurück, denn ich wollte nicht, dass er das

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