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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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…« Ich hatte den Eindruck, er wollte noch mehr sagen, aber die Leitung blieb stumm.
    »Meinen Sie, ich sollte sie anrufen?«, fragte ich.
    Wieder das verlegene Schweigen.
    »Nein …« Pause. »Nein, das erwartet sie nicht.« Noch eine Pause. »Das ist nicht nötig.« Stille. »Ich komme morgen früh rüber. Ich kann den Jungen nach Hause bringen, wenn Sie wollen.«
    Irgendwie beschlich mich das Gefühl, er wollte nicht, dass ich die Großmutter kennen lernte. Dabei gab es Dinge, über die ich mit ihr reden, Fragen, die ich ihr stellen musste. Doch ich beschloss, es bis zum nächsten Tag aufzuschieben.
    Also bedankte ich mich bei George und legte auf.
    Ich ging auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer, um nach Ika zu sehen. Ich stellte mich ans Fußende des Bettes und betrachtete ihn. Er lag auf dem Rücken, und sein Gesicht war unbewegt, sein Atem kaum hörbar. Jetzt fand ich, dass er uralt aussah. Wie ein Mensch am Ende seines Lebens. Weise, als stünde er über oder jenseits dieser Welt. Ich bückte mich, legte meine Wange auf die Decke über seiner Brust und dann an seine Wange, die trocken und warm war.
    Dann kehrte ich zurück zum Sofa, hüllte mich erneut in die Decke und fiel in einen tiefen Schlaf.
    In dieser Nacht hatte ich wieder den Traum.
    Das letzte Mal war so lange her, dass ich gedacht hatte, es sei endgültig damit vorbei.
    Es war derselbe, aber er fühlte sich überhaupt nicht so an. Wie immer ging es nur um uns beide, meinen Bruder und mich. Und wieder sah ich mit Erstaunen, wie jung wir waren. Damals mochte ich mich für ein großes Mädchen gehalten haben, das sich seiner Verantwortung voll bewusst ist. Aber ich war erst acht Jahre alt. Und mein Bruder war so klein und wirkte sehr trübsinnig. Da waren wir, allein, Hand in Hand, und steuerten auf den unausweichlichen Abgrund zu.
    Sie geht durch den Streifen Wald aufs Wasser zu, ihren Bruder neben sich. Es sieht aus, als ob eine helle Lampe alles von oben beleuchtet. Unter den Ästen der Fichten ist es dunkel, doch sie ist sich des kalten, schattenlosen Lichts dahinter bewusst.
    Sie hält seine Hand. Er ist so klein, dass er sich recken muss, sein Kopf befindet sich gerade mal auf Höhe ihrer Taille. Sie muss sehr langsam gehen, um sich ihm anzupassen, aber das stört sie überhaupt nicht. Wenn sie könnte, würde sie ganz stehen bleiben. Als sie dem Wasser näher kommen, kann sie es riechen. Es stinkt nach Klärschlamm. Es ist nicht Sommer und auch nicht Winter. Es ist gar keine bestimmte Jahreszeit, beziehungsweise eine unspezifische, die sich nie ändert. Andere Menschen sind nicht unterwegs, nur sie beide. Sie sprechen nicht, doch es ist ein angenehmes Schweigen. Es liegt Liebe darin. Aber zugleich befällt sie eine schreckliche Vorahnung. Ihr Herz fängt an zu hämmern. Sie erreichen die grauen Felsen, die steil bis zu dem dunklen Wasser abfallen. Es geht kein Wind. Alles ist absolut still. Sie schaut nicht nach links, doch sie weiß, dass sie da ist, die Eisenbahnbrücke, die sich hoch in den Himmel wölbt.
    Einen kurzen Moment lang balancieren sie auf dem Rand des Felsens; sein kleiner Körper berührt ihr Bein. Tief unten droht die graue Oberfläche des unbewegten Meers, und trotz der Entfernung kann sie spüren, wie kalt es ist. Kälter als die Luft.
    Plötzlich macht er einen Schritt nach vorn, und noch bevor es geschieht, weiß sie, dass seine Hand ihr entgleiten wird. Die kleinen Finger lösen sich von ihren, er fällt den steilen Abhang hinunter und ist außer Sichtweite. Es ist ganz still. Sie vernimmt keinen Laut; die Stille dröhnt in ihren Ohren.
    Jetzt verlangsamt sich alles. Sie ist wie gelähmt, nicht zu der geringsten Bewegung imstande. Ihr Blick ist auf die Stelle gerichtet, wo sie ihn hat verschwinden sehen. Sie hört ihn nicht, aber ihr ganzer Körper schmerzt bei jedem Aufprall, jedem Kratzer, den der Kleine bei seinem Sturz erleidet. Sie ist gefangen, versteinert und erfüllt von dem durchdringenden Bewusstsein, dass sie nichts tun kann. Im Geist durchlebt sie, starr und steif, die grauenhafte Szene immer wieder. Sie ist so entsetzt, wie er es sein muss. Sie verspürt dieselben Schmerzen wie er. Sie ringt nach Luft. Nichts regt sich.
    Dann, als ob sie aus einer Trance erwacht, dreht sie sich abrupt um und beginnt zu rennen. Ihre Schritte erscheinen ihr schwerfällig, und während ihr Herz rast, bewegen sich ihre Füße unerträglich langsam voran, als sie auf die Brücke zusteuert. Sie wölbt sich hoffnungslos außer

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