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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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Gefühl hatte, ich übte Druck auf ihn aus. Dass seine donnerstäglichen Besuche eine Verpflichtung wären. Aber er zeigte keinerlei Reaktion. Er saß da und starrte einfach reglos ins Leere. Ich stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen.
    »Wenn du mir nichts erzählst, kann ich dir nicht helfen«, sagte ich. Ich hatte ihm den Rücken zugewandt und den Blick auf meine Hände gerichtet, während ich die letzten Sachen vom Tisch nahm und ihn mit einem Tuch abwischte.
    »Und ich glaube, du brauchst Hilfe. Die braucht jeder manchmal. Einige Situationen sind zu schwierig, um sie allein zu bewältigen.«
    Ich nahm wieder Platz und konnte nicht anders, als ihn anzuschauen. Ich schluckte und setzte erneut an.
    »Als ich so alt war wie du, dachte ich auch, ich käme allein zurecht. Aber manchmal klappt das einfach nicht, wenn man ein Kind ist.«
    Er sagte immer noch nichts und verweigerte jeden Blickkontakt.
    »Kann ich dir ein paar Fragen stellen, Ika? Du brauchst nicht zu antworten, nur zu nicken oder den Kopf zu schütteln. Okay?«
    Nichts.
    »Ist das okay?«, wiederholte ich und beugte mich vor. Er lehnte sich zurück, um die Distanz zwischen uns zu bewahren. Doch ich meinte, die Andeutung eines Nickens zu erkennen. Vielleicht senkte er aber auch nur den Kopf, um meinem Blick auszuweichen.
    »Was hast du gestern im Meer gemacht? Es ist Winter. Das Wasser ist sehr kalt.«
    Nichts.
    »Bist du ins Meer gegangen, weil du traurig warst?«
    Ein winziges Kopfschütteln.
    »Weil du Angst hattest?«
    Ein Nicken – vielleicht, sicher war ich mir nicht.
    »Hat dir gestern jemand wehgetan?«
    Ein Nicken. Definitiv.
    »Okay. Du musst mir nicht erzählen, was passiert ist. Aber ich würde gern mit zu dir nach Hause kommen.«
    Plötzlich schaute er hoch, nicht direkt auf mich, doch ich sah, dass seine Augen sich weiteten, als wäre er erschrocken. Entsetzt sogar.
    Heftiges Kopfschütteln.
    Meinte er, dass er nicht nach Hause wollte? Oder dass ich ihn nicht begleiten sollte?
    Ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Ich musste ihn heimbringen oder meinen Verdacht melden. Womöglich beides. Aber das konnte ich nicht hinter seinem Rücken tun. Ich musste versuchen, etwas zu erklären, das in meinem eigenen Kopf noch unsortiert war. Also verschaffte ich uns einen Aufschub.
    »Okay, denken wir nach, während wir duschen und uns anziehen«, sagte ich.
    Und das taten wir dann auch. Wir duschten, und ich glaube, wir dachten beide nach.
    Und ich dachte auch an einen anderen kleinen Jungen.
    »Werd groß!«, flüstert sie. »Bitte, werd schnell groß!«
    Sie drückt den Rahmen des Babysitzes herunter und lässt ihn wieder los. Der kleine Körper wippt auf den schmutzigen Kissen leicht hin und her, aber das Baby gibt keinen Ton von sich. Mit ernsten Augen erwidert es ihren Blick und lutscht dabei an den ersten zwei Fingern seiner linken Hand.
    Sie drückt stärker und schaut zu, wie der Kleine ein bisschen höher schaukelt und dann langsam zur Ruhe kommt. Sie beugt sich vor und legt ihm ihr Ohr auf die Brust und hört tief drinnen ein leises, pfeifendes Geräusch. Wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, findet sie. Sie weiß, wie das klingt, denn sie ist mit Großvater angeln gegangen. Früher. Obwohl es immer schwerer wird, dieses Früher zu sehen. Sie muss die Augen schließen, damit die Bilder auftauchen, und sie erscheinen ihr jedes Mal ein wenig matter. Und kleiner, als würden sie aus immer größerer Entfernung betrachtet. Sie weiß, dass sie sie braucht, obwohl sie versucht, nicht an sie zu denken. Nur manchmal, um sich zu vergewissern, dass sie noch da sind. Und bei jeder Erinnerung ist sie erleichtert. Sie erinnert sich. Sie erinnert sich daran, wie die Fischmäuler aussahen. Keine Lippen, eigentlich nichts, was einem Mund ähnelt, nur weiße, knochige Kanten, die auf- und zuklappten, während die runden Augen in den Himmel starrten. Die Kiemen, die kein Geräusch machten, wenn sie sich vergeblich öffneten und schlossen und die seltsamen blutroten Membranen enthüllten, die langsam in der Sonne trockneten. Dann ein letzter Seufzer, wenn das Rückgrat in Großvaters Händen zerbrach. Danach kein Laut mehr, nur gelegentliches Zucken, bis sich nichts mehr regte. Sie erinnert sich.
    Sie beugt sich wieder vor und flüstert in das weiche Ohr, das aussieht wie eine samtige Muschelschale.
    »Werd groß, bitte!« Sie zieht ihm die Babyfinger aus dem Mund und wartet, den Blick starr auf seine schwarzen Augen gerichtet. Er lächelt und streckt eine

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