Fremde am Meer
merkwürdig. Warum steht Mutter so reglos da? Vorsichtig hebt Marianne den Kopf ein wenig vom Kissen, sodass sie in den Flur schauen kann. Und da ist Annette, den Rücken an der Wohnungstür, und Hans ganz nah bei ihr. Sie sieht ihn nur von hinten und ein bisschen von Annette. Sie sieht, wie Hans ihr mit den Fingern das Kinn hochdrückt, während er mit der anderen Hand ihren Rock ein Stück hoch zieht und darunter greift. Dann beugt er sich vor, und es scheint, dass er sie küsst. Es ist sehr still. Sie kann das Geräusch der Autos hören, die tief unten auf der Straße fahren.
Endlich bewegt sich Mutter, aber statt das Zimmer zu verlassen, kehrt sie zurück an Mariannes Bett und setzt sich. Marianne hält die Augen geschlossen, und Mutter sagt nichts. Sie sitzt einfach da. Als Marianne irgendwann doch die Augen ein wenig aufmacht und Mutter anblinzelt, sieht sie, dass Mutter zum Fenster schaut, vor dem im Dunkeln langsam und lautlos Schneeflocken tanzen. Sie hat ihre Haarspange herausgenommen und fährt sich mit den Fingern durch die Haare, die ihr über die Schultern fallen. Erst als Marianne ihre Beine bewegen muss, scheint Mutter plötzlich zu sich zu kommen. Sie wendet den Kopf und legt ihre Hand auf die Decke über Mariannes Brust.
»Gute Nacht, Marianne«, sagt sie sehr leise, und ihre Stimme klingt anders als sonst. Dann gibt sie ein Geräusch von sich wie ein leichtes Husten und sagt ein bisschen lauter: »Gute Nacht, und schlaf gut.«
Diesmal geht sie nicht auf Zehenspitzen, sondern durchquert den Raum mit schweren Schritten. Als sie an der Tür ist, scheint sie einen Moment zu zögern, bis man die Wohnungstür auf- und zugehen hört. Dann flutet das gelbe Licht ins Zimmer, vor dem Mutter eine Silhouette ist. Hans’ rasche Schritte ertönen. Es kommt ihr vor wie eine Ewigkeit, bis Mutter endlich in den Korridor tritt und die Tür hinter sich zuzieht. Es ist, als hätte sie das Licht mitgenommen, und der Raum erscheint ihr dunkler als zuvor.
Annette taucht nie wieder auf. Und Marianne sieht die Mädchen nicht mehr als reale Menschen. Sie werden wie alles andere hier.
Fremd und flüchtig.
14
Das Allerbeste an meinem Leben mit Ika war unser gemeinsames Projekt. Es kam mir vor, als würde ich zum ersten Mal mit einem anderen Menschen auf eine instinktive, fast telepathische Weise gemeinsam etwas erschaffen. Mir wurde klar, dass ich dergleichen noch nie erlebt hatte. Natürlich hatte ich beruflich wie privat schon mit Leuten zusammengearbeitet, aber es war nie so gewesen, dass wir uns derselben Aufgabe widmeten. Im Gegenteil: Wir hatten die Aufgaben zwischen uns aufgeteilt. Nicht einmal in meiner Ehe hatte ich eine solche Verbundenheit gespürt. Mein Mann und ich hatten Seite an Seite gelebt, doch ich hatte keinen Einblick in seine Gedankenwelt gehabt oder er in meine. Noch nie hatte ich das Glück eines wahrhaft gemeinsamen Projektes kennen gelernt.
Es war, als wäre mir ein neues Leben geschenkt worden, oder vielmehr, als wäre ich endlich zum Leben erwacht. Wenn wir nach einem Arbeitstag nach Hause kamen, glühten meine Wangen sowohl von der körperlichen Anstrengung als auch vor Freude, und ich setzte mich mit der Art von Erschöpfung hin, die wohltuend und unendlich befriedigend ist. Ich hatte keine Ahnung, ob es Ika ähnlich ging.
Wir hatten beide unsere jeweilige Rolle, und die Ikas war die des Projektmanagers. Aber wir taten alles gemeinsam. Wir brauchten einander. Er hatte den Plan im Kopf und wusste genau, wo alles hingehörte. Wenn wir unterwegs waren, um Material zu sammeln, wusste er immer exakt, wonach er suchte.
»Nein, den nicht, wir brauchen einen größeren. Und dunkler muss er sein«, sagte er zum Beispiel, wenn ich einen Stein hochhielt. Oder: »Wir brauchen mehr Federn. Graue.«
Wir legten keine Vorräte an, sondern sammelten Stück für Stück, was wir benötigten. Wir nahmen nie etwas mit, das uns gefiel, und suchten dann einen Platz dafür. Es war stets umgekehrt. Der Plan in Ikas Kopf bestimmte unser Vorgehen. Ich merkte schon früh, dass er vollständig und sehr detailliert war und keine impulsiven Veränderungen erlaubte.
Wir bemerkten nie irgendwelche Eingriffe in die Installation; immer fanden wir sie genauso vor, wie wir sie verlassen hatten. Und sie überstand unbeschadet Wind und Regen.
Wir arbeiteten nicht jeden Tag. Es dauerte eine gute halbe Stunde, um hinzugelangen, und manchmal reichte die Zeit nach der Schule nicht. Doch je länger die Tage wurden, desto
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