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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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sich geordnet in Richtung Nordwesten.
    Am Nachmittag treffen sie in Kawhia ein.
    Er stellt ihren Rucksack in den Kofferraum ihres Wagens und knallt den Deckel zu.
    Sie stehen nebeneinander.
    Einen ganz kurzen Moment lang denkt sie: »Ich kann nicht. Unmöglich.«
    Etwas in ihr gibt nach, und sie verliert den Halt, die Fassung. Sie streckt ihre Arme aus und zieht ihn an sich. Er umschlingt sie fest, hebt sie hoch und flüstert ihr ins Ohr: »Es sind doch nur ein, zwei Tage.«
    Und dann das Unvermeidliche.
    »Ich liebe dich, Marion.«
    Sie weint nicht.
    Sie sagt: »Ich liebe dich, Mikael.«
    Er steigt in den Jeep und kurbelt das Fenster herunter. Dann beugt er sich vor und ruft: »Wir sehen uns in Auckland!«
    Sie steht da und sieht zu, wie er wegfährt. Winkend, bis er um eine Kurve verschwindet.
    Sie bleibt in ihrem Auto sitzen, bis jemand hupt. Ihr wird klar, dass sie einen anderen Wagen blockiert, und sie lässt den Motor an und fährt vom Parkplatz.
    Wo soll sie hin?
    Wo sollte ich denn hin?
    So hatte George meine Frage beantwortet.
    Es gibt Augenblicke im Leben, wenn wir uns an einem Scheideweg befinden, in denen wir total die Orientierung verlieren. In denen wir uns nur treiben lassen können.
    Ich sah mich selbst fahren, unterwegs nach Nirgendwo, und bis heute verstand ich nicht, wie ich es geschafft hatte zu gehen.
    Als ich von George nach Hause kam, ging ich hinein und setzte mich an den Küchentisch. Es war spät, und Wein und Calvados wirkten noch nach. Ich zündete eine Kerze an und stellte sie vor mich. Ich konnte zwar nicht viel sehen, doch ich spürte, wie sauber und aufgeräumt alles war. Es fühlte sich angenehm an. Als wäre mein Haus stärker und glücklicher geworden, besser gerüstet dafür, mich zu umsorgen.
    Ich holte mir die Zeitschrift aus dem Schlafzimmer, setzte mich wieder an den Küchentisch und schlug sie auf.
    Da waren sie, Mikaels Fotos. Mehrere Seiten mit ihnen. Und ein großes Porträt von ihm. Es musste viel früher aufgenommen worden sein, denn seine Haare sind kurz. Aber er hat dasselbe Lächeln. Dieselben grauen Augen.
    Ich strich mit dem Finger über seine Stirn.
    Irgendwann muss sie anhalten. Es ist später Nachmittag, doch der Regen hat noch nicht eingesetzt. Der Himmel ist dunkel und bedrohlich und das Meer unter ihr bleiern mit weißem Schaum, der die Wellen krönt. Der Wind weht so stark, dass die Böen den Wagen erschüttern. Sie steigt trotzdem aus. Steht einen Moment lang da und schaut auf die See.
    Dann greift sie in ihre Jeanstasche und zieht ihr Handy heraus. Reckt den Arm und wirft es mit aller Kraft, die sie aufbringen kann, im hohen Bogen in Richtung Wasser. Sie kann nicht sehen, wo es landet.
    Sie lässt sich neben dem Auto zu Boden sinken. Jetzt endlich weint sie.
    Sie bleibt dort, bis es zu regnen beginnt. Es ist ein heftiger, harter Regen, der ihre Haut peitscht und an ihren Haaren zerrt. Aber sie dreht ihm ihr Gesicht entgegen. Heißt ihn willkommen. Taumelnd kommt sie auf die Beine und reißt sich die Jacke vom Leib. Breitet die Arme aus und schreit in den Wind. So verharrt sie, bis ihr die Stimme bricht und sie völlig durchnässt ist.
    Dann legt sie sich auf den Rücksitz, um zu schlafen.
    Als sie aufwacht, ist es noch dunkel, aber sie spürt, dass es nicht mehr Nacht ist. Sie schaut auf ihre Armbanduhr: halb fünf Uhr. Sie ist steif und friert. Doch etwas ist überschritten.
    Sie lebt.
    In Raglan hält sie an und frühstückt in einem kleinen Café. Eine blasse Sonne ist aufgegangen. Sie sucht und findet eine kleine Pension. Die junge Frau, die sie empfängt, ist hochschwanger. Sie lächelt mitleidig beim Anblick ihres durchnässten Gastes.
    »Schreckliches Wetter letzte Nacht«, sagt sie.
    Es ist viel zu anstrengend, sich eine Antwort darauf auszudenken, deshalb nimmt Marion nur den Schlüssel entgegen und geht in ihr Zimmer.
    Sie zieht sich aus, stellt sich unter die Dusche und dreht das heiße Wasser immer weiter auf, bis ihre Haut ganz rot ist.
    Dann wickelt sie sich fest in eine Decke, legt sich hin und schläft wieder ein.
    Sie bleibt eine Woche in Raglan, in der sie absolut nichts tut. Schon die kleinste Entscheidung, das geringste Handeln kostet gewaltige Mühe. Aufstehen. Sich ankleiden. Essen. Spazierengehen. Jeder Abschnitt des Tages erscheint ihr unüberwindlich und erfordert ihre ganze Kraft.
    Ihre Nächte sind leer. Sie schläft, ohne zu träumen. Aber es sind nicht Träume, die sie fürchtet. Es sind die Gedanken, die sie in den grauen

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