Fremde am Meer
Name eine neue Dimension. Er bezeichnet nicht mehr die fremde Metropole, die sie hinter sich gelassen hat, sondern die Stadt, in der er ist. Falls er noch da ist.
Sie könnte ihm zufällig begegnen. Das wäre möglich. Wie könnte sie ein solches Zusammentreffen je überleben? Es ist unvorstellbar. Und doch gibt es einen Teil von ihr, der sich das wünscht. Ihr Gehirn horcht nicht auf Befehle, sie kann ihre Gefühle nicht kontrollieren.
Aber das muss sie. Es geht nicht anders.
Es ist absolut notwendig, was es sie auch kosten mag.
Und sie begegnet ihm nicht, obwohl sie ihre Blicke immer über die Menschenmengen auf den Straßen schweifen lässt. Wenn sie an Kreuzungen wartet. In Cafés sitzt. Gelegentlich fällt ihr ein gebräunter Rücken ins Auge. Ein blonder Lockenschopf. Und die Zeit bleibt für eine Sekunde stehen. Doch er ist es nie.
Sie weiß, dass es so sein muss, so und nicht anders. Sie muss lernen, ohne ihn zu leben. Ganz allmählich.
Sie kann nicht ahnen, dass sie gar nicht auf der Hut zu sein braucht.
Sie fliegt zurück nach London.
Sie zieht in eine kleine Mietwohnung in Hampstead nahe dem Krankenhaus, wo sie arbeitet. Es ist Frühling, und wenn sie frei hat, geht sie im Park spazieren, wo sich die Knospen der Blumen und Magnolien öffnen. Sie ist sich nicht bewusst, Gedanken oder Pläne zu haben. Vorsichtig bewegt sie sich von einem Tag zum anderen.
Ein Monat vergeht. Ein Jahr.
Es wird nicht leichter, aber es verändert sich. Es ist ähnlich wie das Hinnehmen einer Behinderung. Langsam wird aus Wut und Trauer Akzeptanz, und der Kampf ums Überleben beginnt. Dann folgt Anpassung. Und eine Art Leben.
Ihre Fähigkeit, Erinnerungen zu verdrängen, nutzt sie gut. Sie verstaut sie in einzelnen Kisten, die sie dann versiegelt. Doch sie zahlt einen hohen Preis dafür. Es erfordert so viel Anstrengung, dass ihr praktisch keine Energie für etwas anderes bleibt.
Gerade als sie glaubt, sich eine einigermaßen erträgliche Existenz geschaffen zu haben, bricht alles zusammen.
Sie dreht ihre übliche Runde. Geht einkaufen wie immer. Bleibt gelegentlich vor einem Schaufenster stehen, dann tritt sie in den Buchladen. Sie hat nichts Besonderes im Sinn, vertreibt sich nur die Zeit. Die Zeitschriftenregale interessieren sie nicht, und sie ist fast schon an ihnen vorbeigegangen, als sie ihrem eigenen Blick begegnet.
Sie bleibt wie erstarrt stehen, ihre Augen auf das Foto gerichtet. Dann stellt sie ihre Einkaufstüten ab und greift mit steifen Fingern nach einem Exemplar des Magazins. Sie schlägt es nicht auf, schaut nur auf das Titelblatt, geht zur Kasse und bezahlt.
Hinterher kann sie sich nicht erinnern, wie sie nach Hause gekommen ist. Aber sie weiß, dass sie die Zeitschrift aufgeschlagen und den ganzen Artikel gelesen hat.
Zuerst sieht sie sich die Bilder an. Für seinen Fotoband »Mensch und Meer« hat er einen renommierten Preis bekommen. Aber sie sieht nicht die Fotos, sondern den Fotografen. Sie betrachtet die Aufnahmen mit seinen Augen. Sieht, was er gesehen hat. Versteht genau, was er einfangen wollte.
Schiebt sie das Lesen absichtlich auf? Überspringt den Text zunächst vorsätzlich? Am Ende genügt die Überschrift: »Der Preis wurde posthum verliehen.«
Er hat Auckland nie erreicht. Details werden natürlich nicht genannt. »Kam tragischerweise auf dem Weg in die Stadt bei einem Autounfall ums Leben«, heißt es bloß. Aber sie glaubt sie zu kennen, stellt sich vor, dass das Lächeln bis zum Schluss nicht von seinem Gesicht gewichen ist.
»Wir sehen uns in Auckland«, ruft er und winkt ihr zu. Dann beschreibt die Straße eine Kurve, und sie sieht ihn nicht mehr.
Sie wird ihn nie wieder sehen.
Zum ersten Mal ist sie gezwungen, sich einzugestehen, dass sie die Möglichkeit als einen winzigen Hoffnungsschimmer in sich getragen hat. Eine eigentlich unmögliche Möglichkeit, die aber ganz von sich zu weisen sie bisher abgelehnt hatte.
Ihre sorgfältig aufgebaute Existenz bricht zusammen. Die Mauern bröckeln, der Boden unter ihren Füßen gibt nach.
Wir wurden von der Anwältin in ihrer Kanzlei in Hamilton begrüßt. Sie war mittleren Alters und sehr hübsch, in einem dunklen Kostüm, hatte jedoch etwas Ungeduldiges an sich. Sie führte uns sofort in den Konferenzraum und stellte uns den drei Personen vor, die darin warteten: zwei Vertretern des Jugendamtes – einer Frau, die ich bereits kannte, und einem Mann, der ihr Vorgesetzter zu sein schien – und einer Frau, die aussah, als wäre
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