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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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sie in den Dreißigern. Lola war nicht da.
    Die Frau war Lolas Halbschwester Nina. Mir blieb fast das Herz stehen. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht mit Angehörigen von Ika gerechnet.
    Auf einer Anrichte stand Kaffee, und wir bedienten uns alle, bevor wir Platz nahmen.
    Der Mitarbeiter des Jugendamtes eröffnete das Treffen.
    Es war alles unternommen worden, um Lola aufzuspüren, sagte er. Man hatte herausgefunden, dass sie im Norden lebte, hatte jedoch keinen festen Wohnsitz ermitteln können. Ihre Familie hatte keinen Kontakt mehr zu ihr.
    Allerdings gab es vertrauenswürdige Zeugen, die bestätigten, dass Lola Ika wiederholt misshandelt hatte. Er war zwei Mal mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert worden – beim ersten Mal war es ein Arm und das zweite Mal zwei Rippen. Beide Vorfälle waren nicht als verdächtig gemeldet worden, sodass man keine Untersuchungen eingeleitet hatte.
    Ika war einem ausführlichen Gesundheitscheck unterzogen worden. Körperlich ging es ihm gut, obwohl Anzeichen für Vernachlässigung vorlagen. Seine Zähne zum Beispiel waren in schlechtem Zustand. Auch seine geistige Verfassung und seine sozialen Fähigkeiten waren getestet worden, und die Ergebnisse bestätigten meinen Verdacht, dass er an einer milden Form von Autismus litt. Es gab aber keinen klaren Hinweis darauf, wie ernst seine Probleme waren und wie weit man sie seiner häuslichen Situation zuschreiben konnte.
    Ich schaute mich am Tisch um. Die Rechtsanwältin wirkte, als warteten andere dringende Angelegenheiten auf sie. Sie sah immer wieder verstohlen auf ihre Uhr. George saß mit im Schoß gefalteten Händen und einem neutralen Gesichtsausdruck da. Die Frau vom Jugendamt machte sich in einem kleinen Heft Notizen – vielleicht kritzelte sie auch nur Männchen. Trotz der entscheidenden Auswirkungen, die dieses Treffen auf Ikas Leben haben würde, und obwohl er die Hauptperson war, erschien er mir seltsam abwesend. Nicht einmal wenn er namentlich erwähnt wurde, hatte ich das Gefühl, dass wir über einen realen kleinen Jungen redeten.
    Als George an der Reihe war zu sprechen, fasste er sich kurz. Er bestätigte nur, dass Ika sich gut bei ihm eingewöhnt hatte und dass er meinen Antrag voll und ganz unterstützte.
    Dann wandte er sich mir zu.
    »Wie auch immer das Ergebnis sein mag, ich habe ihn mittlerweile so sehr ins Herz geschlossen, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, in seinem zukünftigen Leben keine Rolle mehr zu spielen.«
    Dann verstummte er, ein bisschen verlegen aussehend.
    Ich versuchte, mich in meinem Beitrag an die reinen Fakten zu halten. Ich betonte, wie gut Ika sich in seiner Zeit bei mir entwickelt hatte. Und ich versicherte, dass ich seine Kontakte zu seiner leiblichen Familie auf jede erdenkliche Weise fördern würde.
    Der Mann vom Jugendamt schaute mich an und nickte.
    Dann forderte er Nina zum Sprechen auf.
    Ich sah sie an und meinte jetzt, eine vage Ähnlichkeit mit Lola zu erkennen. Sie lag mehr in den Augen als in allem anderen. Aber diese Frau war hübscher als Lola, wenn auch nicht so schön, wie Lola meiner Meinung nach einst gewesen sein musste. Nina wirkte bodenständig und vernünftig. Eine Farmersfrau vielleicht, dachte ich.
    Ich war vollkommen unvorbereitet auf das, was sie sagte.
    »Lola ist meine ältere Halbschwester«, begann sie, »aber ich habe sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, zum letzten Mal, als meine Mutter mich zu ihr schickte, um ihr mit den Zwillingen zu helfen. Da war ich fünfzehn und Lola einundzwanzig.«
    Sie hielt kurz inne. Sie schien weder verlegen noch befangen zu sein und wählte ihre Worte sorgfältig. Ich stellte fest, dass ich sie mochte.
    »Ich habe Lola eigentlich nie gut gekannt – sie ist schon mit fünfzehn von zu Hause ausgezogen. Aber Mutter dachte, dass Lola Hilfe brauchte, und ich hatte Schulferien. Zuerst freute ich mich darauf. Ich habe Kinder immer gern gehabt. Doch es war schrecklich. Ich hatte Angst vor Lola. Die Zwillinge waren winzige Neugeborene und untergewichtig. Trotzdem schlug sie sie. Gab ihnen Klapse, wenn sie sich über etwas ärgerte. Und sie ließ sie ewig lange schreien. Ich rief Mutter an und erzählte ihr davon und sagte, ich wolle nach Hause, aber Mutter fand wohl, das klinge noch mehr danach, dass Lola Hilfe benötigte. Also blieb ich. Bis zu dem Tag, an dem sie eins von den Babys fallen ließ. Sie behauptete, es sei ein Unfall gewesen, aber irgendwie kam mir die Sache komisch vor. Und wir fuhren

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