Fremde am Meer
und ich wieder zu Atem gekommen war. »Ika bleibt.«
Dann küsste ich ihn.
25
Ich ging am Strand entlang. Noch ein paar Stunden, bis es Zeit war, Ika von der Schule abzuholen – George und ich würden zusammen hinfahren.
Die Luft war frisch und der Sand kühl unter meinen Füßen. Ich erinnerte mich daran, wie Ika und ich einmal über Orte gesprochen hatten, über diesen Ort und andere, und er mich gefragt hatte, ob ich für immer hier bleiben würde. Meine Antwort damals war spontan gewesen. Ich hatte nicht gezögert, »Ja« zu sagen.
Seit ich hier lebte, war ich nie weiter als bis nach Auckland gereist. Es hatte ganze Tage, manchmal Wochen gegeben, in denen ich diesen Strand überhaupt nicht verlassen hatte.
Als ich mich jetzt umschaute, erkannte ich plötzlich, dass meine vertraute Umgebung sich auf subtile Weise verändert hatte. Nicht in ihrem Aussehen, sondern in ihrer Anmutung. Sie schien sich von mir zurückzuziehen. Ich ließ meinen Blick über die Sanddünen schweifen, deren Umrisse und Schatten ich durch und durch zu kennen geglaubt hatte, und sie wirkten anders auf mich. Es fühlte sich an, als stünde ich kurz davor, aus der Sphäre herauszutreten, die mich so lange geschützt hatte.
Ich hatte nicht weiter gedacht als bis zu diesem Tag. Jetzt, da er gekommen war, wurde mir klar, dass ich Pläne machen musste. Auch wenn keine einschneidenden Veränderungen zu erwarten waren, würde mein Leben nie wieder sein wie zuvor. Ich weiß nicht, ob mir bis zu diesem Moment überhaupt klar gewesen war, dass nun eine Zukunft vor mir lag.
Ich hatte so lange ohne Zukunft und mit einer verdrängten Vergangenheit gelebt. Jeder einzelne Tag war nur eine Frage des Überlebens gewesen. Ich hatte nie zurückgeschaut und nie nach vorn, sondern in einer Art zeitlosen Gegenwart existiert.
Ich wanderte hinunter ans Meer. Ab und zu erwischte mich eine Welle, und das kalte Wasser schwappte mir über die Füße. Ich schaute auf den Ozean und fragte mich, ob ich vielleicht endlich jene Ganzheit erreicht hatte, die ich immer mit ihm assoziiert hatte, ob ich jetzt die Fähigkeit besaß, ein Leben zu leben, das eine Vergangenheit ebenso wie eine Zukunft umfasste.
Was immer sie auch bereithalten mochte.
Es ist Instinkt, der sie antreibt. Sie kämpft um ihr Leben. Um einen gewissen Anteil daran. Vielleicht ist es aber auch nicht Leben, das sie sucht, sondern einen Ort zum Sterben.
Also reist sie wieder auf die andere Seite der Welt. Sie tritt eine Wallfahrt an, zu einem Tempel, den zu finden sie hofft.
Zu einem Ort, wo sie eines Tages vielleicht imstande sein wird, ihre Erinnerungen zuzulassen.
Wenn ich hier nicht leben und auf diesen Tag warten kann, denkt sie, dann kann ich hier sterben.
Sie macht einen Schritt nach dem anderen.
Wandert, zaghaft zunächst, ihren einsamen Strand entlang, verschlungene Wege, auf denen sie etwas sucht, das sie nie findet.
Aber die Zeit verstreicht. Und sie führt eine Art Leben in dem Kokon aus Einsamkeit, den sie um sich gesponnen hat.
Irgendwie, aus irgendwelchen Gründen, überlebt sie. Schafft sich eine Existenz, die kein Leben ist, ihm nur vage ähnelt.
Manchmal wundert sie sich darüber, dass sie immer noch hier ist, immer noch lebt.
Und obwohl sie weiß, warum sie diesen Ort gewählt hat, erlaubt sie sich nicht die geringste Erinnerung an das, was sie hergebracht hat, streift sie nicht einmal.
Aber es kommt vor, dass sie das Auto nimmt und nach Kawhia fährt. Sie steigt nicht aus, sondern parkt nur an der Stelle, wo sie ihn hat wegfahren sehen. Sie sitzt da und versteht nicht, warum.
Doch sie kehrt nie dorthin zurück, wo sie gezeltet haben.
26
»Ich finde, das verlangt nach einer richtigen Feier«, sagte George nach dem Abendessen an jenem Freitag.
Ika nickte und wirkte dabei wie ein ernsthafter Erwachsener. Es war rührend zu sehen, wie er sich bereits etliche von Georges Manierismen angeeignet hatte.
Ich lachte das eigentümliche, erst vor kurzem wiedergefundene Lachen, das mir immer noch fremd war.
»Aber wir haben doch schon gefeiert«, entgegnete ich und zeigte auf die Reste unserer Mahlzeit. »Mit einem wunderbaren Essen.«
Ich hob mein Glas und prostete den beiden zu.
»Manchmal bekommen wir genau das, was wir brauchen, indem wir über genau die richtigen Menschen stolpern. Manchmal bemerken wir das gar nicht, was sehr traurig ist, und manchmal verlieren wir sie wieder. Das ist auch traurig, aber nicht ganz so schlimm, denn was man einmal zusammen besaß,
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