Fremde am Meer
auch erst am nächsten Tag ins Krankenhaus. Das Baby lag inzwischen ganz schlaff da und atmete sehr schnell. Lola sagte, ich solle im Krankenhaus den Mund halten. Und als wir dort waren, war sie völlig verändert – nett und freundlich und lieb zu den Kindern. Die Kleine hatte eine schwere Gehirnerschütterung und musste dableiben. Ich rief Mutter wieder an und weinte und flehte sie an, mich nach Hause zu holen. Am Tag darauf reiste ich ab. Lola hat sich nicht einmal von mir verabschiedet.«
Wieder hielt sie inne.
»Irgendetwas stimmt nicht mit Lola. Sie ist nie so gewesen wie andere Menschen. Zu Hause hat sie ständig gelogen. Auch in ganz unwichtigen Angelegenheiten. Es war, als wollte sie zeigen, dass sie die Leute dazu bringen konnte, ihr alles zu glauben. Sie war stolz darauf, als wäre das eine wertvolle Fähigkeit. Außerdem sah sie sehr gut aus, und wenn sie lächelte und etwas behauptete, glaubten die anderen ihr wirklich. Es ist eine Krankheit. Natürlich fliegt sie jedes Mal früher oder später auf und muss weiterziehen. Sich ein neues Publikum suchen. In ihrer Welt ist kein Platz für andere. Ihre Beziehungen waren alle kurz und gewalttätig. Ihre Kinder hatten es furchtbar bei ihr. Für die Zwillinge lief es vielleicht etwas besser, weil sie schon früh in Pflege gegeben und dann adoptiert wurden. Die zwei anderen aber müssen sehr gelitten haben, obwohl nie etwas gemeldet wurde. Und jetzt sind sie beide tot.«
Sie trank einen Schluck Wasser.
»Was ich gern sagen würde, ist, dass Lola nie das Sorgerecht für ein Kind hätte bekommen dürfen. Ich habe ihren Enkel nie kennen gelernt, aber ich hätte angeboten, ihn zu nehmen, wenn ich gekonnt hätte. Ich habe gründlich darüber nachgedacht, und es geht einfach nicht. Ich habe vier Kinder, und das jüngste ist nach einer Kopfverletzung behindert. Mein Mann und ich glauben nicht, dass wir so für Mika sorgen können, wie er es braucht und verdient.«
Ich holte tief Luft.
»Als ich hörte, was Marion sagte, habe ich gemerkt, wie wichtig er ihr ist. Ich bin überzeugt davon, dass sie den Kleinen wirklich liebt, und ich glaube, er würde es bei ihr sehr gut haben.«
Sie sah uns alle der Reihe nach an.
»Die Entscheidung liegt natürlich nicht bei mir. Aber ich möchte betonen, dass ich als Vertreterin von Mikas Familie Marions Antrag voll und ganz unterstütze. Ich hoffe, das hilft.«
Sie wandte sich zu mir.
»Und ich freue mich darauf, mit Ihnen in Kontakt zu bleiben.«
Sie lächelte mich an, als ob sie davon ausging, dass alles gut laufen werde.
Der Mitarbeiter des Jugendamtes und seine Kollegin beendeten das Treffen damit, dass sie erklärten, sie hätten unsere Aussagen zur Kenntnis genommen, und eine Entscheidung werde wahrscheinlich bereits in wenigen Tagen fallen. Dann verabschiedeten wir uns alle voneinander.
Ich hätte gern noch mit Nina gesprochen, aber sie hatte es eilig – ihr Mann wartete draußen. Sie umarmte mich kurz und gab mir ein Küsschen auf die Wange.
»Was glauben Sie?«, fragte ich, als wir im Auto unterwegs nach Hause waren.
George drehte sich zu mir um.
»Das ist doch offensichtlich«, sagte er. »Nach Ninas Aussage kann ich mir nicht vorstellen, dass es für Sie nicht gut ausgeht.«
Nach einer Weile warf er mir noch einen raschen Blick zu.
»Und ich habe jedes Wort ernst gemeint.«
24
Der Anruf kam am folgenden Freitag. Ein so kurzes Gespräch, und doch war mein Leben innerhalb von Sekunden komplett verändert. Oder vielleicht hatte mein Leben auch gerade erst begonnen.
Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, nachdem ich aufgelegt hatte.
Es fühlte sich merkwürdig an, das Lachen. Zaghaft und schwach zunächst, wie das erste dünne Tröpfeln in einem ausgetrockneten Flussbett. Doch dann gewann es an Kraft, bis es regelrecht aus mir herausbrach. Ich lief auf die Terrasse, reckte die Arme zum Himmel. Tanzte wie eine Verrückte. Dann fing ich an zu rennen.
Ich kam vollkommen außer Atem bei George an und fand ihn auf einem Liegestuhl hinter seinem Haus vor, wo er Zeitung las.
Er stand langsam auf, als er mich erblickte. Ich lief zu ihm und warf ihm die Arme um den Hals.
Es dauerte einen Moment, bis er reagierte. Es schien, als zögerte er, um mir Gelegenheit zu geben, meine Meinung zu ändern. Um sich zu vergewissern, dass ich nicht überstürzt handelte. Doch dann fühlte ich, wie er mich fest umarmte, mich hochhob und dort auf dem Rasen herumwirbelte.
»Geschafft!«, sagte ich, als er mich abgesetzt hatte
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