Fremde Federn
Antwort ohnehin bereits, man brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, daß es ihrer Tochter alles andere als gutging.
»Die Zimmer an der Hochbahn sind viel billiger«, antwortete Fritzi.
Ilsa war entsetzt, als sie den abfallübersäten Gehsteig vor Fritzis Haustür sah. »In welchem Stock wohnst du?«
»Im dritten. Das Fenster dort ist meins.«
»Auf der gleichen Höhe wie die Hochbahn? Aber dann kann dir ja jeder ins Zimmer schauen.«
»Deshalb ist ein Zimmer im dritten Stock immer am günstigsten.«
Sie stiegen drei dunkle Treppen hinauf. Das Zimmer war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Kein Sofa, nicht einmal eine hübsche Zimmerpalme, nur ein Bett, ein Schrank, eine alte Kommode, ein Stuhl. Die Hochbahn kam näher. Ilsa mußte sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben, während das ganze Zimmer samt Mobiliar durchgerüttelt wurde.
»Hast du ein eigenes Bad?«
»Es ist mein eigenes, wenn ich abschließe«, antwortete Fritzi vergnügt. »Es wird von einem halben Dutzend Mietern benutzt. Ich habe eine Schüssel unter dem Bett.«
Auf der Straße unten schrie eine Frau, und Ilsa rannte zum Fenster. Sie sah, wie ein Fettwanst mit einem Küchenbeil der Frau hinterherrannte. Plötzlich war sie zutiefst deprimiert.
Fritzi wollte ihre Mutter trösten und sagte: »Ich habe einen Gaskocher im Erker. Ich mache uns was Gutes zum Lunch.«
Ilsa, die sich sofort daran erinnerte, was für ein schreckliches Fiasko Fritzi stets in der Küche anrichtete, widersprach schnell: »Nein, meine Liebe. Du brauchst eine kräftige Mahlzeit, du bist viel zu dünn, weißt du das? Solange ich hier bin, essen wir auswärts.«
Das einzige in Frage kommende Restaurant war Lüchow’s an der Südseite der Vierzehnten Straße. Während ein Kellner eine Flasche Liebfrauenmilch entkorkte, dudelte eine Vier-Mann-Kapelle Tilzers Walzer Wo das Würzburger fließt.
»Überall hört man jetzt Lieder, in denen es um Bier geht«, erklärte Fritzi. »Hat Papa etwa auch schon eines in Auftrag gegeben?«
»Nein, davon hält er nicht viel. Im Vertrauen kann ich dir sagen, daß er gar nicht traurig darüber ist, daß Unter dem Anheuserbusch kein großer Hit geworden ist.«
Ilsa musterte ihre Tochter. Sie pflegte sich für ihren Geschmack nicht genügend. Freilich konnte Fritzi sich keine elegante Garderobe oder teuren Schönheitsprodukte leisten. Aber trotzdem sollte sie besser auf sich achten. Ihr Haar bändigen, ihre Kleidung bügeln - ein bißchen mehr auf ihre Weiblichkeit achten. Sie schien nicht zu wissen, wie anziehend sie war, und gab schon darum nicht viel auf Äußerlichkeiten.
Sie prosteten einander zu. »Prosit!« Nach dem ersten Schluck sagte Fritzi. »Hast du schon den neuesten Witz über Präsident Taft gehört? Er ist in der Straßenbahn aufgestanden und hat seinen Platz drei Damen angeboten.«
»Wirklich lustig, aber lieber würde ich etwas über das Stück erfahren, das ich leider Gottes verpaßt habe.«
Fritzi gab eine Zusammenfassung ihrer Erfahrung mit Macbeth: daß sie sich mit dem Regisseur und männlichen Hauptdarsteller, einem Mr. Manchester, und mit der Hauptdarstellerin angefreundet habe. Ilsa, die Mrs. Van Sant dem Namen nach kannte, war sehr beeindruckt.
Einige von Fritzis Kollegen waren offenbar weniger sympathisch gewesen. Fritzis Nachahmung eines gewissen Mr. Scarboro brachte Ilsa zum Lachen.
»Deine Imitationen sind nach wie vor großartig.«
»Carl und Joey und ein paar meiner Lehrer waren da anderer Meinung. Aber Pauli fand sie immer gut. Wahrscheinlich ist es nicht nett, andere nachzumachen, aber manchmal kann ich gar nicht anders, ich kann Narren nun mal nicht ausstehen.«
»Wie dein Vater.«
Ilsas Herz floß über vor mütterlicher Sorge. Daß Fritzi ums schiere Überleben kämpfte, war klar. Sie fand, daß ihre Tochter schon viel zu lange in New York war. Um sich Mut zu machen, nahm sie noch einen Schluck Liebfrauenmilch.
»Darf ich dir eine ganz ernste Frage stellen? Hast du den Mut noch nicht verloren?«
Fritzi erwiderte ebenso ernst: »Ja, manchmal bin ich mutlos.«
»Dann komm mit nach Hause. Gib auf!«
Fritzi sah sie an. »Um Papa zu versöhnen?«
»Nein, nein! Um dieses schreckliche Leben hinter dir zu lassen.«
»Ich bin freiwillig nach New York gekommen, Mama. Jahrelang habe ich davon geträumt. Ich tu’ das, was ich schon immer tun wollte.«
»Wie kannst du das nach so vielen Enttäuschungen sagen? Wie geht es weiter? Willst du weiter Teller tragen, Betten machen oder für
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