Fremde Federn
die Wand und prallte zurück. Verdammtes Großmaul, dachte er, während Innis auf ihn zugetorkelt kam. Aber noch bevor Innis zu einem weiteren Schlag ausholen konnte, packte Carl ihn mit beiden Händen am Hemd und riß ihn zur Seite. Der Wirtshausbesitzer sprang zur Tür, riß sie auf, Innis flog in hohem Bogen rückwärts hinaus und landete draußen auf dem Erdboden.
Carl ging ihm nach. »Laß gut sein! Ich will keinen Streit mit dir. Geh nach Hause, und schlaf deinen Rausch aus.«
Innis rappelte sich auf die Knie hoch, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. Einen Augenblick lang dachte Carl, die Sache sei erledigt; er ließ sich von Innis’ krankem, scheißfreundlichem Lächeln täuschen.
»Also, dann«, setzte Innis auf den Knien robbend an. Zu spät begriff Carl, was der andere im Schilde führte. Innis’ rechte Hand klammerte sich um Carls Knöchel und riß ihn zu Boden. Dann sprang Innis auf, versetzte Carl zwei kräftige Fußtritte und streckte die Hand nach der Schaufel aus.
»Und jetzt«, keuchte er, während Carl sich mit brummendem Schädel aufrappelte, »und jetzt wollen wir mal sehen, du verdammter Scheißkerl.«
Carl hieb mit der flachen Seite der rechten Hand auf Innis linke Ellbogenbeuge ein. Der Griff des anderen lockerte sich, so daß es Carl gelang, ihm die Schaufel zu entreißen. Plötzlich zückte Innis ein Klappmesser, das genauso aussah wie das von Carl, und ließ es aufschnappen. Carl wich einen Schritt zurück. Innis sprang zur Seite und führte einen Stoß mit dem Messer aus. Wie mit einem Baseballschläger holte Carl nun mit der Schaufel aus.
In letzter Sekunde zog er die Hand etwas ein, denn er hatte nicht vor, den Mann umzubringen. Trotzdem traf die Schaufel mit metallischem Klirren auf. Innis ging zu Boden, aus dem linken Ohr floß Blut. Er fiel nach vorne, stöhnte und verlor das Bewußtsein.
Der Wirtshausbesitzer und die Kartenspieler standen in einem Halbkreis um Innis herum, während sich Carl tief durchatmend die Schulter rieb, die sich anfühlte, als habe er sich einen Muskel gezerrt. Der Besitzer übergoß den am Boden Liegenden mit einem Eimer Wasser. Innis leckte sich das Wasser von den Lippen, ohne aufzuwachen.
»Seit Wochen ist er fuchsteufelswild«, klärte ihn der Wirt auf. »Erst hat man ihn bei der Rennbahn rausgeworfen, dann hat ihn seine Alte vor die Tür gesetzt. Seitdem ist er aus dem Ruder gelaufen. Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht bleiben, bis er aufwacht. Ich würde gleich verschwinden.«
»Klar doch, daran bin ich gewöhnt«, gab Carl mit bitterem Lächeln zurück. »Ich brauche Arbeit, vielleicht könnte ich seinen Job kriegen. Wo ist die Rennbahn?«
»Baltimore Downs. Am Nordrand der Stadt.«
»Danke freundlichst.« Carl drehte sich um und humpelte über den Hof davon.
Die Nacht verbrachte er unter einer Parkbank in einem kleinen Kaff, freilich ohne ein Auge zuzutun, denn ihm klapperten die Zähne vor Kälte. Der kräftige Nordwestwind roch nach Schnee.
Am Morgen machte er sich auf den Weg nach Baltimore Downs. Schließlich stand er vor einer herrlichen, eine Meile langen Rennbahn mit großer, flaggengeschmückter Tribüne, einem zweistöckigen Clubhaus, teuren Ställen und Sattelplätzen. Ein Pferdeknecht, der ein Fohlen bewegte, wies ihm den Weg zum Büro. Der Mann im Büro namens Reeves brachte das Vorstellungsgespräch sofort auf einen knappen Nenner:
»Sie wollen Innis’ Job, stimmt’s? Er hat die Ställe saubergemacht, den Pferdeknechten geholfen und was sonst noch so anfiel. Sind Sie willens?«
»Ich bin willens, mir ab und zu etwas hinter die Kiemen zu schieben«, antwortete Carl.
Die Antwort gefiel Reeves. »Sie haben Innis also kennengelernt?«
Carl fuhr mit der Hand an die sich verfärbende Stelle an seinem Kinn. »Leider.«
»Wer hat gewonnen?«
»Ich.«
Diese Antwort gefiel Reeves noch besser. »Also dann, die Ställe sind sauber und warm. Sie können so lange in einer leeren Box schlafen, bis Sie eine Unterkunft gefunden haben. Morgen früh fangen Sie an, pünktlich um sechs.«
Während sich Carl bei Reeves bedankte, hörte er das tiefe Brummen eines Motors. »Klingt wie ein Benzinwagen.«
»Ist einer. Wenn keine Pferde laufen, finden sich seit neuestem Automobilisten hier ein, die sich für Autorennen begeistern. Unsere Rennbahn ist auch bei den Fahrern beliebt. Schon mal ein Rennen gesehen?«
»Ich hab’ das erste Autorennen überhaupt gesehen. An Thanksgiving, 1895, in Chicago.«
»Das berühmte Rennen im
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