Fremde Federn
Familie wohnte in Jesse Shiners Häuschen in der Columbia Street. Die Frau, dürr, mit hängenden Schultern und einem Säugling auf dem Arm, wußte nicht, wo Jesse wohnte, aber Carl erfuhr, daß Jesse bei Sport’s auf der East Side arbeite.
»Ist ein Friseurladen. Für Farbige«, fügte die Frau hinzu, um sicherzugehen, daß er im Bilde war. Carl trat wieder in den Regen hinaus.
Der Friseurladen war ein hübscher kleiner Salon mit vier Stühlen. Ein kräftiger, achtunggebietender blauschwarzer Mann mit Glatze trat von einem Kunden weg, den er gerade im ersten Stuhl rasierte.
»Ich glaube, Sie haben sich verirrt, Mister.«
Weiter hinten, am letzten Stuhl, sagte eine Stimme: »Nein, Sport, ich kenne ihn.«
»Jesse!« Carl stapfte nach hinten, wobei er bei jedem Schritt eine kleine Pfütze hinterließ, was Sport mit mißbilligendem Blick quittierte. Im Laden war es angenehm warm, und es duftete nach Talkum, Haaröl und Pomade. Jesse hatte sich kaum verändert, er war so dürr wie eh und je, nur ein paar Altersflecken waren auf seinem kaffeebraunen Gesicht zu sehen. Als er sich aus dem Stuhl erhob, neigte sich sein ganzer Körper zur Seite. Der Anblick erinnerte Carl wieder an die schreckliche Nacht, als der Mordbube einen Fischhaken in Jesses Bein gegraben hatte.
»Wie geht es dir, Jess?«
»Ich lebe. Früher hab’ ich Witze über solche Arbeit gemacht, und jetzt, schau mich an. Hätte nicht gedacht, daß ich dich noch mal wiedersehe. Was treibst du?«
Carl erzählte von seinen Plänen, dann sagte er: »Ich möchte Tess sehen. Weißt du was von ihr?«
»Komm mit nach hinten, da können wir reden.«
Carl folgte ihm in das mit Vorräten vollgestellte Hinterzimmer. Jesse zog an der Schnur einer Hängelampe, setzte sich auf eine Bank und bot Carl eine Zigarette an. Carl schüttelte den Kopf.
»Viel weiß ich nicht, nur, was ich hin und wieder in der Zeitung lese. Sie heißt jetzt Mrs. Sykes.«
Carls Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Sie hat diesen Hundesohn geheiratet?«
»Tja. Aber er ist vor ein paar Jahren tödlich verunglückt. Auf einer Spazierfahrt mit zwei leichten Mädchen, alle sturzbetrunken. Das Auto hat sich überschlagen. Hat sich den Hals gebrochen, der Gute. Die Flittchen haben auf dem Rücksitz gedöst, sind mit ein paar Kratzern davongekommen. Anscheinend gibt’s doch noch so was wie Gerechtigkeit.«
»Und sonst?«
»Ich glaub’, nichts. Oh, ja, sie und Sykes hatten einen Jungen. Sie lebt mit dem Kind in dem Haus von ihrem Vater auf Piety Hill. Der Vater ist in irgendeinem Altersheim. Die Autofabrik Clymer gibt’s nicht mehr. Die Konkurrenz war zu stark.« Jesse paffte an seiner Zigarette. »Aus allem, was ich mir zusammenreimen kann, ist Tess eine gute Frau. Schätze, du warst verdammt vernagelt, daß du sie hast sitzenlassen.«
»Damals konnte ich nicht anders. Kann ich dich zum Mittagessen einladen?«
»Sport gibt uns ’ne halbe Stunde. Aber erst um zwölf.«
»Ich warte.«
Am selben Abend stand Carl in nachlassendem Regen und bei heulendem Nordwind, der aus Kanada kam, vor dem Haus der Clymers in der Woodward Avenue. Es war noch immer das herrschaftliche Haus, das er in Erinnerung hatte, drei Stockwerke hoch und hell erleuchtet. Er war überrascht und ein wenig gekränkt, daß Tess diesen Wayne Sykes geheiratet hatte, den Mann, den er halb totgeschlagen hatte. Aber ihr Vater hatte sie immer gedrängt, und wahrscheinlich war dieser Bastard eine gute Partie. Außerdem konnte er nicht erwarten, daß Tess ihm, Carl, treu blieb, da sie annehmen mußte, daß er nie mehr zurückkommen würde.
Er wollte sich schon von dem Eisentor abwenden, als er sich plötzlich an die weiche Umarmung an diesem längst verlorenen Tag erinnerte, an dem sie sich geliebt hatten, und an den Glanz in Tess’ Augen, die so dunkelblau waren, wie er sich die Südsee vorstellte. Er mußte durch das Tor gehen und sein Glück versuchen.
Ein Livrierter öffnete auf Carls Klopfen die Tür; als er den tropfnassen Besucher erblickte, reagierte er mit entsprechender Geringschätzung.
»Handelsvertreter zum Hintereingang. Wir geben kein ...«
»Ich bin ein Freund von Mrs. Sykes.« Der Gesichtsausdruck des Mannes sagte deutlich, daß er das nicht für denkbar hielt. »Ist sie zu Hause?«
»Mrs. Sykes empfängt heute abend keine Gäste.«
»Danach habe ich nicht gefragt, ich habe gefragt, ob sie zu Hause ist. Wenn ja, sagen Sie ihr, daß Carl hier ist.«
»Und Ihr Nachname?«
»Nur Carl.«
Er machte die
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