Fremde Federn
Sogar Michael meinte, er sei ein Idiot, wenn er es nicht täte. Julie neckte Paul, daß er anscheinend alles selbst machen wolle - womit sie gar nicht so falsch lag.
Pauls Arbeitszimmer im vorderen Teil der Wohnung war früher ein Schlafzimmer gewesen. An den ziemlich feminin wirkenden oberen Bleiglasfenstern ließ sich nichts ändern, aber sonst hatte Julie das Zimmer ganz nach männlichem Geschmack eingerichtet: gestreifte Tapeten, dunkle Möbel, zwei Bücherregale im Chippendale-Stil, elektrische Tisch- und Stehlampen, deren leuchtendrote Schirme Fransen hatten, ein Schreibtisch mit Rollschrankaufsatz gegenüber dem kleinen Kamin. Die edwardianische Mode schrieb weniger Nippes vor als das vorangegangene Zeitalter, aber insgeheim war Paul ein Viktoria-ner geblieben. Jeder freie Platz war mit Büchern, Papieren, Metalldosen mit Filmrollen oder mit Andenken an seine Reisen vollgestellt: Bierdeckel, Streichholzschachteln, Ansichtskarten, ein MiniaturEiffelturm, ein malaysisches Messer mit grausam gezackter Klinge, ein japanischer Fächer, eine Pickelhaube aus Deutschland, die Shad gerne aufsetzte, wenn er mit seinem hölzernen Gewehr über der Schulter spielte, ein kleiner chinesischer Gong, der zum Mittagsmahl angeschlagen wurde, und eine ordinäre indische Fußmatte, die hin und wieder auf dem feinen Perserteppich landete, wenn Shad seine Eltern ärgern wollte. Sein Zimmer fehlte Paul sehr, wenn er auf Reisen war.
Shad war eben im Begriff, eine weitere Frage zu stellen, als die Tür aufging. Julie streckte den Kopf herein. »Du meine Güte, hier kann man ja gar nichts mehr sehen vor lauter Rauch.« Shad sprang auf, lief auf seine Mutter zu, umschlang sie mit den Armen und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Einen Augenblick später schlüpfte er grinsend hinaus.
Julie - Paul hatte sie in Chicago als Juliette Vanderhoff kennengelernt - war eine zierliche Frau mit zarter, heller Haut und großen, leuchtenden grauen Augen. Seine Herz machte einen Satz, als er sah, wie anziehend sie in ihrem Nachmittagskleid wirkte, einer Kreation aus Seidenchiffon in stark gedämpftem Rosa mit plissierten Ärmeln. Um den Hals trug sie die Perlenkette, die er ihr zusammen mit passenden Ohrringen vergangenes Weihnachten geschenkt hatte.
Julie erlebte so gut wie nie mehr diese schrecklichen depressiven Stimmungen, unter denen sie als junge Frau gelitten hatte, als ihre geistesgestörte, übermächtige Mutter ihr ständig in den Ohren gelegen und ihr hatte weismachen wollen, daß Krankheit, Schwäche und nervöse Verstimmungen das Los einer Frau seien. Man hatte Julie gezwungen, einen Mann zu heiraten, der sie mißbrauchte, einen Playboy, der schließlich von seiner Geliebten erschossen wurde, ohne daß Julie, die unfreiwillig Zeugin wurde, etwas dagegen hatte unternehmen können. Diese Erlebnisse hatten Spuren hinterlassen: eine sichtbare Zerbrechlichkeit, eine hin und wieder zu bemerkende Traurigkeit in den Augen. Ihren Kindern, ihrer Ehe mit einem Mann, der sie anbetete, war es zu verdanken, daß sie nicht endgültig in Düsternis versunken war, sondern sie besiegt hatte.
Sie kämpfte noch immer für die Sache von Mrs. Pankhurst, der sie vor einer Woche in Jean Tussauds Museum begegnet war, wo diese sich als neue Wachsstatue fand, der Nachwelt unsterblich übereignet. In Julies Ankleidezimmer stapelte sich Literatur der WSPU. Sie arbeitete regelmäßig an einem Schreibtisch in der Ecke ihres Nähzimmers, verfaßte Briefe, Petitionen und vor kurzem auch eine Rede für eine Versammlung im Hyde Park, zu der in wenigen Wochen mehrere tausend Menschen erwartet wurden.
Die daraus resultierende Gewalt eskalierte auf beiden Seiten. Zwei Frauen hatten ohne Auftrag Steine durch die Fenster von Nr. 10 Downing Street geworfen. Es war die Rede von Hungerstreiks und von einer Erstürmung des Parlaments durch die Massen. Premierminister Asquith vertrat weiterhin die Meinung, daß die Frage des Frauenwahlrechts ausreichender Unterstützung entbehre, um eine Gesetzesreform zu rechtfertigen. Jedesmal, wenn die Rede darauf kam, empörte sich Julie.
»Was soll Barbara heute abend kochen?« fragte sie jetzt.
Paul legte den Arm um sie. »Es sieht nach einem milden Abend aus. Warum machen wir nicht mit den Kindern einen Spaziergang und essen irgendwo fish and chips?«
»Das wäre wunderbar.« Julie erspähte das Buch auf dem Fensterplatz. »Ich bin so stolz auf dich, Paul.«
»Ohne dich, meine Liebe, hätte ich nicht einmal den ersten Absatz
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