Fremde Federn
zweitklassigen Theaters stand, verhieß es wie alle Theater Illusion und Vergnügen. Der Duft von Farbe, Schimmel und Staub stieg ihr wie köstliches Parfüm in die Nase.
Noch drei Aspirantinnen traten ein. Eine Minute später kündigten Stimmen aus der Seitenkulisse von der Ankunft eines dicken Mannes mittleren Alters in englischem Anzug, langem Operncape und breitrandigem Filzhut nach Art der Künstler und Literaten. Er hielt ein Buch und Papiere in der Hand, die er auf den Tisch legte. Dann warf er seinen Hut zur Seite und trat, Hände in die Hüften gestemmt, an die Rampenleuchten. In Richtung Balkon rief er:
»Seid ihr wach dort oben? Wir brauchen mehr Licht, und zwar schnell.« Die Stimme des Mannes überraschte Fritzi durch ihren tiefen, volltönenden Klang. Aus der Dunkelheit hoch oben fuhr ein Fluch herab. Vor dem Balkon gingen die Scheinwerfer an. Der dicke Mann stand in vollem Licht.
»Guten Tag, meine Damen.« Er machte einen Kratzfuß. Seine makellose Aussprache verriet die Oberschicht. Er löste den Verschluß seines Capes und schleuderte es wie ein Stierkämpfer zur Seite. »Mein Name ist Manchester.« Er strahlte, als erwarte er Applaus. Ein oder zwei Speichellecker kamen der unausgesprochenen Aufforderung nach.
Fritzi konnte sich keinen Reim auf den »berühmten Darsteller tragischer Rollen« machen. Sie schätzte, daß er ungefähr einsfünfundsechzig groß und zwei Zentner schwer war; er war so rund wie ein Zeppelin. Zweifellos hatte er O-Beine und trug, wie sie sah, Schuhe mit höheren Absätzen, um größer zu wirken. Sein Gesicht war rot wie ein Rinderbraten. Träge verhangen blickende, braune Augen, Kuhaugen fast. Sein schulterlanges Haar erinnerte sie an Bilder von Oscar Wilde.
»Ich sehe keinen rothaarigen Gentleman hier«, erklärte Manchester fröhlich. »Als ich das Theater betrat, bin ich über eine Stufe gestolpert. Beides sichere Zeichen, daß wir kein Unglück zu erwarten haben.« Aha, er auch. Fritzi hatte schon viele Schauspieler kennengelernt, die furchtbar abergläubisch waren.
Manchester schritt an den Tisch und griff nach den Namenlisten. Obwohl er von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt schien, gefielen ihr seine Prahlerei und seine volltönende Stimme.
Manchester war ein Regisseur aus dem Bilderbuch, eine Kombination aus Produzent und Hauptdarsteller. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die großen Regisseure die Bühnen regiert, aber jetzt waren ihre Tage gezählt. Das moderne Theater wurde von neuen Kräften bestimmt. Da gab es den Direktor, der eine relativ neue Position bekleidete. Dann den Produzenten, den mächtigen Geldgeber, der irgendwo im Hintergrund alles kontrollierte. Und schließlich den Star, den Schauspieler, den die Leute sehen wollten, auch wenn er oder sie nicht mehr getan hätte, als drei Stunden lang mit Äpfeln zu jonglieren. Mrs. Van Sant, Manchesters Lady Macbeth, war einer dieser Stars.
Inzwischen stand Manchester wieder an der Bühnenrampe, von wo aus er jetzt zu ihnen sprach.
»Wir alle wissen, warum wir hier sind, nicht wahr, meine Damen? Der Ruf des Thespis. Der Glanz der Lichter, der Applaus, das Publikum! Das Schriftstellergenie Charles Dickens hat diesen Zauber wie kein anderer verstanden. Er war auch ein außergewöhnlicher Schauspieler. Er hat Amateuraufführungen organisiert und aus seinen Werken vorgelesen, was einem jedesmal das Herz aus dem Leibe riß. Ich hatte die Ehre, in meiner Jugend solchen Aufführungen beizuwohnen, wobei ich manchmal die niedrigsten Arbeiten im Theater verrichtete, um mir Zugang zu verschaffen.«
Eine ältere Schauspielerin vor Fritzi wandte den Kopf nach hinten und flüsterte: »Ganz schön von sich eingenommen, was?«
Manchester berührte das Buch auf dem Tisch. »Ich gehe davon aus, daß ich das berühmte Werk, das wir besetzen wollen, nicht erklären oder gar zusammenfassen muß. Im Theater sprechen wir den Namen des Stücks nur dann aus, wenn er im Verlauf des Textes fällt. Heute sind wir auf der Suche nach drei Hexen. Die erste Hexe wird außerdem Lady Macduff im vierten Akt spielen. Die zweite Hexe zusätzlich die Kammerfrau im fünften. Die dritte Hexe hat nur eine Rolle, in der sie glänzen kann, aber aus ihrem Mund kommt die schicksalhafte Prophezeiung, daß die Hauptfigur schließlich König wird. Jede Hexe wird auch die Rolle der anderen einstudieren. Wir werden das Vorsprechen hier auf der Bühne durchführen, da uns kein kleinerer Raum zur Verfügung steht. Ich bitte Sie, Ihren
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