Fremde Federn
blickte ihm gerade ins Gesicht. »Ich mag dich auch, Carl. Sehr sogar. Aber du scheinst mir nicht zu dem Typ Mann zu gehören, der eine Dauerbeziehung mit einer Frau eingeht. Egal welcher Frau.«
»Ich würde ...« Er schluckte, um den großen Klumpen im Hals loszuwerden. »Ich würde eine Dauerbeziehung eingehen, wenn ich mich in sie verlieben würde.«
Ein Leuchten trat plötzlich in ihre Augen, aber vielleicht auch eine Träne; im Schatten war das schwer festzustellen. Sie umarmte ihn, dann küßte sie ihn; es war ein langer, leidenschaftlicher Kuß.
Er schlang die Arme um sie und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, das von der Sonne warm war. Er spürte ihren ganzen Körper, ihre sich hebende und senkende Brust, ihre Hüften und Beine, die sich an ihn preßten. »Oh, Gott«, flüsterte er. »Mir ist schwindlig.«
»Mir auch.«
»Wie konnte das passieren?«
»Ich weiß nicht, es ist einfach passiert.«
»Was machen wir jetzt?« Was er wollte, war klar: Sie in eine abgeschiedene Lichtung tragen und sie lieben. Sein Körper schickte deut-liche Signale aus, das mußte sie spüren. »Im Moment gar nichts. Wir wollen einfach abwarten.« Er drückte sie immer noch fest an sich, während seine rechte Hand langsam nach oben wanderte, um ihr übers Haar zu streichen. Plötzlich hörten sie näher kommende Stimmen; sie ließen die Arme sinken und sahen zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die Fangen spielten. Sie traten auseinander, beide mit roten Gesichtern.
Den Rest des Nachmittags vermieden sie, darüber zu sprechen, was sie sich eben gegenseitig gestanden hatten. Beiden schien klar, daß eine dauerhafte Beziehung eigentlich unmöglich und nicht zu verwirklichen war. Aber Carl wurde das Gefühl nicht los, als stecke er bereits mitten drin in einer aufregenden und vielleicht gefährlichen Beziehung.
Auf der Überfahrt zurück in die Stadt war Tess plötzlich wieder der Ohnmacht nahe. Sie mußte im großen Aufenthaltsraum der Fähre Platz nehmen. Carl setzte sich neben sie und musterte sie fragend.
»Tess, sag mir doch, was los ist!«
»Darüber kann man nicht sprechen.«
»Ich habe noch nie von einer Krankheit gehört, über die man nicht sprechen kann.«
»Es ist keine Krankheit. Es ist eine Sache, die nur Frauen betrifft. Aber nicht einmal Frauen reden darüber, höchstens verschlüsselt. Es ist nichts Ernstes, bloß lästig, weil es regelmäßig passiert.« Sie nahm ein Tuch aus der Tasche, tupfte sich die Augen ab und schaute ihn an. »Was wirst du bloß von mir denken? Von mir und meinen Enthüllungen.«
»Ich bitte um Verzeihung, daß ich gefragt habe. Ich habe dich in eine peinliche Situation gebracht.«
Wieder drückte sie seine Hand, lachte sogar. »Wenn es jemand anderer wäre - aber bei dir ... Jetzt weißt du ganz genau, daß ich kein artiges Mädchen bin, nicht wahr?«
»Dafür mag ich dich. Deshalb habe ich mit dir angebändelt. Wie viele junge Damen setzen sich schon auf einen Zaun, um ein paar Idioten zuzusehen, die sich in Automobilen umzubringen versuchen?«
23. JESSE UND CARL
Noch nie hatte man so viele strahlende Gesichter in der Piquette Avenue gesehen. Es regnete Aufträge für das kleine Automobil, das laut und einfach war, die Käufer aber durch seinen Preis bestach, vor allem die Farmer, die zum ersten Mal billig und bequem in die Stadt kommen konnten. Aus den ländlichen Gebieten trafen in kürzester Zeit eine Unmenge Bestellungen ein. Schon waren viele Witze über das Modell T in Umlauf. Die Mitarbeiter gaben sie weiter wie Verdienstmedaillen. Wenn Mr. Ford auch nicht den Klassenkampf im Automobilgeschäft gewonnen hatte, so hatte er sich doch ein großes Stück des Kuchens gesichert. Carl sprach mit Tess darüber, als sie sich das nächste Mal trafen. Sie waren dick eingepackt wegen der Novemberkälte, aber sie hätten die Kälte ohnehin nicht gespürt. Tess sagte, ihr Vater werde jedesmal grün und blau im Gesicht, wenn er an den kometenhaften Erfolg des Modells T denke.
Aber der Erfolg war für Ford auch mit Problemen verbunden. Das größte bestand in der Unmöglichkeit, eine größere Anzahl von Autos herzustellen.
Als Carl am späten Samstag mit dem Aufzug in den dritten Stock hinauffuhr, um den letzten Wagen nach unten zu befördern, wurde er Zeuge einer kuriosen Szene. Ein Fahrgestell ohne Achsen, Räder und Motorblock stand auf einem großen Holzbock im Hauptgang. Ein junger Mann namens Charlie Sorensen war in ein ernsthaftes Gespräch mit Mr. Ford, Jim
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