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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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antwortete: »Im ersten Schreck dachte ich, Sie wären mein Bruder Cecil.« Ich war zunächst verwirrt, dann erstaunt. Mit Hänselei kannte ich mich aus, ich hatte zwei ältere Brüder, doch das hier war bei Weitem die gemeinste Form der Hänselei, die ich je erlebt habe. Ich hörte ihn diesen Streich später noch einigen anderen Freunden spielen oder Feinden, als die sie sich dann unerwartet wiederfanden. Cecil antwortete bloß: »Du alter Blödmann!«, und redete weiter; aber noch Jahre später, als ein Anruf von Cecil überhaupt nicht mehr zu erwarten war, musste ich häufig an diesen bösen Streich zurückdenken.

7
    Auszug aus Pauls Tagebuch:
    D reizehnter April 1980, (Cecils 89. Geburtstag!), 10 Uhr 30
    Dieser Eintrag basiert auf stichwortartigen Notizen, die ich jetzt skizzenhaft zusammenbringe, solange die Erinnerung noch frisch ist. Auf der Rückfahrt von Birmingham wollte ich mir im Zug das Band anhören, aber es verstummte schon nach wenigen Minuten – die Mikrofonbatterie hatte anscheinend ihren Geist aufgegeben. Nach zwanzig Interviews musste mir das ausgerechnet bei dem mit George passieren. Für das bisher wichtigste Material verfüge ich somit über keinen dokumentarischen Nachweis. Umso tragischer, als es erstaunliche Enthüllungen gab – wenn sie denn stimmen!
    Verabredet hatten wir uns für halb drei. Die Sawles hatten seit den Dreißigerjahren dieselbe Adresse – 17 Chilcot Ave, Solihull – große Doppelhaushälfte, roter Backstein, schwarz-weiße Giebelfassade; als sie es kauf ten, war es neu. Bevor ich wieder ging, zeigte mir George Sawle noch den Garten und machte mich auf das »Tudor- Fachwerk« auf merksam. Er sagte, seine Kollegen an der Universität hätten es alle urkomisch gefunden, dass aus gerechnet Historiker in einem Pseudo-Tudor-Haus wohn ten. Im Garten hinterm Haus ein Teich voller Kaulquap pen, für die er sich sehr interessierte, und ein Steingarten. Er hielt die ganze Zeit meinen Arm, während er mich he rumführte. Auf Two Acres habe es einen »sehr anspruchs vollen Steingarten« gegeben, dort hätten er, Hubert und Daphne als Kinder immer gespielt – er hätte schon immer ein Faible für Steingärten gehabt. Hubert im Ersten Weltkrieg gefallen, Vater 1903 gestorben, »so ungefähr«, an Diphtherie, und Freda Sawle »etwa 1938«. (»Ich kann mir Jahreszahlen einfach nicht merken.«) GFS eröffnete mir einigermaßen stolz, er sei 84, davor sagte er mal, er sei 76 (er ist 85).
    Madeleine öffnete mir – klagte lang und breit über ihre Arthritis, für die sie hauptsächlich mich verantwortlich machte. Geht an einer Krücke (sehe gleich Mum vor mir). »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie etwas halbwegs Verständliches aus ihm herausbekommen.« Sie war offen, aber nicht freundlich; war mir unsicher, ob sie sich von Daphnes 70. an mich erinnerte. Ihre Schwerhörigkeit schlimmer als vor 13 Jahren, Aussehen unverändert. Ihr Sinn für Humor ist lediglich ein leicht erregbarer Argwohn, jemand anders könnte etwas Bestimmtes witzig finden. Sie sagte: »Ich gebe Ihnen eine Stunde – und selbst das könnte schon zu viel sein« – eine ganz neue Bedingung, die mich ziemlich in Bedrängnis brachte.
    GFS war im Arbeitszimmer, sah verwirrt aus, seine Mie ne hellte sich aber auf, als ich ihm sagte, warum ich hier sei. »Ach, ja, armer alter Cecil, guter alter Cecil!« G ein bisschen schlitzohrig, tat so, als hätte er den großen Durchblick und es eigentlich schon immer gewusst; viel freundlicher, als ich ihn von Ds 70. in Erinnerung hatte – zum Schluss sogar zu freundlich (siehe unten!). Mittlerweile Vollglatze, langer, weißer, strähniger Bart, sieht ein bisschen crazy aus. Grelle Kleidung, bunt gemischt, rot kariertes Hemd unter grünem Pullover, alte Nadelstreifenanzughose so weit hochgezogen, dass sie spannt im Schritt, man weiß nicht, wo man hingucken soll. Ich erinnerte ihn daran, dass wir uns schon mal begegnet sind, was er mir gut gelaunt abnahm, meinte dann aber später: »Wirklich sehr schade, dass wir uns nicht eher kennengelernt ha ben.« Zuerst machte mich seine Vergesslichkeit verlegen – aber warum eigentlich? Warum wird man verlegen, wenn sich andere Leute wiederholen? Dann dachte ich, er merkt es ja nicht, und außer mir ist keiner da, also kann es auch egal sein, es ist eine ganz persönliche Tragödie. Er saß im Sessel neben seinem Schreibtisch und ich auf einem niedrigen Lehnstuhl – wie in einer Tutorensprechstunde auf dem College, stelle ich mir

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