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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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und er schien zu vergessen. Nach einer halben Minute setzte sein anhaltender Kummer zum ersten Mal aus, Versöhnung war in Sicht, danach folgten weitere zehn Sekunden nur noch erinnerter Schmerz, eher förmlich und bewusst, schließlich überließ er sich, unbewusst diesmal, dem Geflecht der Wege. Kies wege, Wege aus Steinplatten und schmale Rasenstreifen schlängelten sich zwischen Hecken hindurch, flankierten die Rabatten oder öffneten sich zu Rondellen, die mit fast identischen Statuen verziert waren und einen Kompass der Entscheidungen bildeten, nach dem zu richten sich die Kinder erst gar nicht bemühten. Corinna ging voraus, über den Hauptrasenweg, gesäumt von Klematisgirlanden, die sich an Ketten zwischen hohen Pfosten entlangrankten und in ein, zwei Wochen eine weiße Pracht, eine Hochzeitsprozession bilden würden. Sie hielt nicht Mavis, sondern Mavis’ roten Lederpompadour fest umklammert. Wilfie mied den Prozessionsweg, scherte galoppierend nach rechts und links aus und redete in einer eigenartigen privaten Sprache vor sich hin, es hörte sich an, als wäre er manchmal wütend auf sich oder auf einen eingebildeten Freund oder Verfolger. »Komm, mein Schatz, mal schauen, was die Fische so treiben«, rief Daphne.
    Ein Tümpel voll stummer Goldfische erschien ihr als ein schwacher Ersatz für den heißen Brodem eines Bauernhofs, für die Gerüche und das Gemansche, und als sie alle an den Hauptteich kamen, brauchte Wilfie schon eine kleine Ermunterung, um sich darauf einzulassen. »Wo verstecken sie sich denn nur? Unter dem Blatt da vorn?«, sagte Daphne. Der Teich war von einem Steinfliesenrund eingefasst, vier Steinbänke in einem zweiten Rund dahinter aufgestellt, zwischen hohen Rosenspalieren, in deren dichtem, rotem und dunkelgrünem Blattwerk sich erste rosa und weiße Knospen zeigten. Mit einem instinktiven Gespür für gute Fotokulissen ließ sich Daphne auf einer der Bänke nieder.
    »Kommt Sebby auch noch, Mutter?«, sagte Corinna und stellte Mavis’ Köfferchen zwischen ihnen auf der Bank ab.
    »Ich weiß nicht, Darling«, sagte Daphne und sah sich um. »Er unterhält sich mit deinem Vater.«
    »Was macht Onkel Sebby eigentlich?«, wollte Wilfrid wissen.
    »Das ist kein Onkel«, stellte Corinna klar und lachte.
    »Nein, mein Frätzchen, ist er nicht …« Der arme Wilfie war ganz verwirrt und fühlte sich offenbar verfolgt von Phantomonkeln. Onkel Cecil war wenigstens bei ihnen im Haus, in idealisierter Marmorgestalt, und wurde häufig heraufbeschworen; von Onkel Hubert dagegen war so selten die Rede, dass er für ihn so gut wie inexistent war – sie wusste nicht mal, ob ihr Sohn je ein Bild von ihm gesehen hatte. Das Ein zige, auf das er sich in seiner kindlichen Vorstellung von einem Onkel beziehen konnte, waren die gelegentlichen Auftritte von George, dem Onkel mit den langen Wörtern. Wenn die meisten Onkel nicht mehr existierten, war es nur natürlich, ein, zwei andere Personen als solche zu vereinnahmen.
    »Es ist nämlich so«, sagte Daphne. »Es soll ein Buch mit allen Gedichten von Onkel Cecil gedruckt werden. Und Sebby ist extra gekommen, um mit deinem Vater darüber zu sprechen und mit Granny V und, na ja, eigentlich mit jedem mal zu reden.«
    »Warum?«, sagte Wilfrid.
    »Weil … es ein Porträt werden soll … die Geschichte von Onkel Cecils Leben. Und Granny V möchte, dass Sebby sie schreibt. Deswegen will er mit allen Leuten sprechen, die ihn gekannt haben.«
    Wilfrid sagte nichts darauf und widmete sich einem neuen Spiel; eine Minute später, mit starrem Blick in den Teich, flüsterte er: »Porträt!«, als wüssten längst alle, dass das eine verrückte Idee war.
    »Armer Onkel Cecil«, vollzog Corinna einen ihrer berech nenden Umschwünge in der Pietätsbezeugung, »So ein großer Mann!«
    »Nun ja«, sagte Daphne.
    »Und so schön.«
    »Das ja«, räumte Daphne ein.
    »Schöner als Daddy?«
    »Er hatte außerordentlich große Hände«, sagte Daphne, die sich beim ersten Bellen des Hundes umsah, offenbar nä herten sich Dudley und die anderen.
    »Oh, Mutter!«
    »Und er war ein großer Bergsteiger, ist immer in den Dolomiten geklettert, aber auch woanders.«
    »Was sind die Dolomiten?«, fragte Wilfrid, der mit einem Stöckchen vorsichtig in dem Fischteich rührte.
    »Das ist ein Gebirge«, sagte Corinna. Rubbish stieß durch das Rosenspalier hinter ihnen, schoss einmal halb um den Teich, kehrte wieder um, fegte mit der Schnauze knapp über die Steinfliesen und wedelte mit

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