Fremder in einer fremden Welt
weniger effektiv.
Sie sehen keine Mängel; sie sehen ein Symbol, das ihre tiefsten Empfindungen anspricht. Es erinnert sie an die Todesqual und das Opfer Gottes.«
»Jubal, ich dachte, du seist kein Christ!«
»Was hat das denn damit zu tun? Macht mich das blind für menschliche Gefühle? Das miserabelste Gipskruzifix kann im menschlichen Herzen so starke Gefühle erwecken, daß viele dafür gestorben sind. und noch mehr dafür leben. Die künstlerische Leistung, mit der ein solches Symbol hergestellt wurde, ist irrelevant. Hier haben wir ein anderes emotionales Symbol - aber mit vollendeter Meisterschaft hergestellt. Aber das soll uns jetzt nicht weiter beschäftigen. Ben, dreitausend Jahre lang haben Architekten Gebäude mit Säulen entworfen, die wie weibliche Körper geformt waren. Es wurde so selbstverständlich wie ein kleiner Junge, der auf eine Ameise tritt. Endlich wies Rodin darauf hin, daß diese Arbeit zu schwer für ein Mädchen ist. Er sagte nicht: >Seht her, ihr Idioten, wenn ihr schon nicht anders könnt, nehmt kräftige männliche Gestaltern. Nein er zeigte es. und entwickelte es zu einem Symbol. Diese arme kleine Karyatide ist unter der Last zusammengebrochen. Sie ist ein braves Mädchen - sieh dir ihr Gesicht an. Ernst, unglücklich über ihr Versagen, ohne Vorwurf für irgendwen, nicht einmal für die Götter. und immer noch versucht sie, ihre Last zu schultern, nachdem sie von ihr zu Boden gedrückt worden ist.
Aber sie ist mehr als gute Kunst, die schlechte Kunst anprangert. Sie ist ein Symbol für jede Frau, die jemals eine zu schwere Last auf die Schultern genommen hat. Ich schätze, das ist ungefähr die Hälfte der weiblichen Bevölkerung dieses Planeten - lebend oder tot. Und nicht nur für die Frauen - dieses Symbol bedeutet jeden Mann und jede Frau, die sich tapfer und ohne sich zu beklagen verausgabt haben, bis sie unter ihrer Last zusammenbrachen. Niemand hat sie je bemerkt. Das ist Mut, Ben, und Sieg.«
»Sieg?«
»Sieg in der Niederlage, und einen größeren gibt es nicht. Sie hat nicht aufgegeben, Ben. Sie versucht immer noch, den Stein zu heben, nachdem er sie zermalmt hat. Sie ist der Vater, der seine Arbeit tut, während der Krebs ihn von innen auffrißt, um noch einen weiteren Lohnscheck nach Hause zu bringen. Sie ist die Zwölfjährige, die versucht, ihren Brüdern und Schwestern die Mutter zu ersetzen, weil Mama in den Himmel gehen mußte. Sie ist die Telefonistin, die auf ihrem Posten bleibt, während der Rauch sie erstickt und das Feuer ihr den Fluchtweg abschneidet. Sie ist all die unbesungenen Helden, die es nicht geschafft haben, aber niemals aufgaben. Komm! Grüße sie im Vorübergehen, und sieh dir meine Kleine Meerjungfrau an!«
Ben nahm die Aufforderung wörtlich. Wenn Jubal überrascht war, dann ließ er sich nichts anmerken. »Das hier ist eine Skulptur, die ich nicht von Mike geschenkt bekommen habe«, berichtete Jubal. »Ich habe Mike nicht verraten, warum ich sie mir beschafft habe. weil es auf der Hand liegt, daß es eine der köstlichsten Schöpfungen ist, die Auge und Hand des Menschen je geschaffen haben.«
»Hierfür brauche ich keine Erklärung - sie ist hübsch.«
»Was als Vorwand ausreicht, wie bei Kätzchen und Schmetterlingen. Aber es liegt mehr darin. und sie erinnerte mich an Mike. Sie ist nicht ganz Meerjungfrau - siehst du es? -, und sie ist nicht menschlich. Sie sitzt an Land, wo sie sich entschlossen hat zu bleiben. und sieht auf ewig hinaus aufs Meer, für immer voller Sehnsucht nach dem, was sie verlassen hat. Du kennst die Geschichte?«
»Hans Christian Andersen.«
»Ja. Sie sitzt am Hafen von Kopenhagen - und sie ist jeder, der jemals eine schwierige Wahl getroffen hat. Sie bereut es nicht, aber sie muß dafür bezahlen; für jede Wahl muß bezahlt werden. Der Preis ist nicht nur endloses Heimweh. Sie wird niemals ganz menschlich sein; wenn sie ihre teuer erkauften Füße benutzt, führt jeder Schritt sie über scharfe Messer. Ben, ich glaube, daß Mike immer über Messer geht - aber erzähle ihm nicht, daß ich das gesagt habe. Ich glaube nicht, daß er die Geschichte kennt. oder zumindest glaube ich nicht, daß er es weiß, daß ich sie mit ihm in Verbindung bringe.«
»Das werde ich nicht tun.« Ben betrachtete die Replik.
»Ich möchte sie lieber ansehen, ohne an die Messer zu denken.«
»Sie ist ein Schätzchen, nicht wahr? Wie würde es dir gefallen, sie ins Bett zu locken? Sie wäre so temperamentvoll wie ein Seehund und
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