Fremdkörper
Tagebuch aufgeschlagen, das bis zur letzten Seite mit meinen tausend Fragen zugekritzelt ist, und die muss ich jetzt unbedingt alle stellen, bevor meine Besuchszeit quasi um ist. Der Anstand zieht die Handbremse.
Wir tauschen unsere Kontaktdaten aus und machen ab, dass wir uns ja mal außerhalb der Ambulanz treffen können. Erstens wäre ein Ort schön, an dem die Wände nicht so viele Ohren und Augen haben. Und zweitens können grauer PVC-Boden und taxigelbe Mauern im direkten Vergleich mit einem hübschen Westberliner Kaffeehaus nicht mithalten. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich ihr vertrauen kann. Nicht nur, weil Bianca selbst Ärztin ist. Sie scheint mir jetzt schon eine sehr gute Verbündete zu sein. Tapfer, fröhlich, auf der gleichen Seite des Schicksals und meine Wellenlänge. Ich fahre beschwingt nach Hause. So allein und elend ich mich zeitweise auch gefühlt haben mag mit meinem Ach-so-ein-Unglück, so sehr weiß ich in diesem Augenblick besser denn je: Ich bin es nicht. Von mir gibt es einige. Wir sind viele.
18.
Hauptsache: Haare
Die Port-OP war tatsächlich ein Klacks. Mein Anflug von Panik vor der Narkose wurde mit sanftem Druck auf die Schultern aus den beruhigenden Händen der Anästhesistin niedergeschlagen. Und als ich meiner Operateurin, einer sehr kleinen Frau mit dunklen, wunderschönen, lachenden Augen, ins Gesicht sehe, da stellt sich – unglaublich, aber wahr – so etwas wie Gelassenheit ein: »Komm schon. Das wird schon. Du hast schon Größeres geschafft.« Das Letzte, was ich vor der medikamentös eingeleiteten Tiefschlafphase von der Traum-Frau höre, ist die zweite Strophe von La-Le-Lu. Sie singt für mich. Mit Textschwächen. Da muss ich schmunzeln.
Jetzt merke ich die Wunde schon nicht mehr. Stattdessen spüre ich umso deutlicher Handlungsbedarf. Das Problem: Ich weiß nicht, in welcher Angelegenheit. Ich möchte und muss irgendetwas tun, was sich richtig anfühlt. Was meinen Job betrifft, da läuft alles wie geschmiert und geölt wie früher. Ich habe mittlerweile wieder angefangen zu arbeiten. Erfüllt mich. Lenkt ab. Macht Sinn. Und Spaß. Spannend wird es, ob das auch unter Chemotherapie funktionieren wird. Nein, irgendetwas anderes soll anders werden. Plötzlich erscheint mir bildhaft – pling! – die berühmte Glühbirne über dem Kopf. Wenn es etwas zu ändern gilt, schnell und radikal, dann hilft nur einer. Die Antwort auf alle elementaren Frauenfragen: der Friseur. Zum Glück ist nicht Montag. Denn eigentlich ist immer Montag, wenn man spontan beschließt, sich die Haare schneiden zu lassen. Die Schnittstelle meines Vertrauens hat auf. Meine Friseurin auch. Und zwar Augen und Mund auf-gerissen, als ich ihr meinen Wunsch mitteile: »Alles ab. Auf 5 Zentimeter.« – »Aber die schönen, langen ...« – »Ja, ich weiß. Versuch nicht, mich zu überreden. Die Entscheidung steht. Ich habe das überlegt. Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt für kurz.« Sie unternimmt noch zwei schwache Versuche: »Schulterlang! Ein Pagenkopf?« und gibt sich dann meiner Entschlossenheit geschlagen. Das arme Ding. Sie kann ja nicht ahnen, dass der schöne Schnitt, den sie mir gleich verpasst, in spätestens Monatsfrist auch schon wieder Geschichte sein wird.
Zufrieden und ein bisschen aufgeregt sehe ich Strähne um Strähne auf den Boden segeln. 40 Zentimeter liebevoll gezüchtetes, gepflegtes und oft genug gestriegeltes Haupthaar. Adieu. Geh mit Gott. Aber geh. Ich finde es gut so, dass ich, so weit es möglich ist, bestimme, was wann wie mit meinem Haar passiert. Gar nicht gut die Vorstellung, morgens aufzuwachen und das Kopfkissen mit langen, verknoteten Haarknäueln bedeckt und mich selbst wie ein gerupftes Huhn mit blanken Kopfflächen zwischen Reststrähnen zu sehen. Das wäre wirklich so. Denn die Haare fallen ja nicht alle auf einmal aus. Sondern hübsch büschelweise. Unregelmäßig. Manche schneller, manche langsamer. Gruselig. Nicht mit mir. Haare sind jetzt gerade meine Haupt-Sache. Ich bevorzuge den kontrollierten Abschied. Und den macht mir meine Friseurin mit einem sehr hippen Look extrem leicht. 25 Minuten nachdem ich den Salon betreten habe, bin ich stolze Trägerin einer Kurzhaarfrisur. Juchhu! Endlich. So lange schon wollte ich das ausprobieren. Nur getraut habe ich mich nie. Bis zu diesem Augenblickes des Muts. Aus Gleichmut: »Jetzt ist es auch egal.« Wie leicht der Kopf wird. Wie schnell das Frisieren geht. Und das Waschen erst. Sensation. Freu dich daran, solange
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