Frettnapf: Roman
nicht doch zwei Standard-Varianten genommen zu haben, weil er schon ahnt, dass er nicht satt werden wird, und ich löchere ihn mit Fragen. Er muss mir alles erzählen, was er über Aylin und Malea weiß, über Hondos wahre Absichten und seine verdammte Radtour um die Welt, die ich für ebenso unwahrscheinlich halte wie Hondos Erklärung zum Juden durch ein Rabbinatsgericht. Wenigstens diese Einschätzung teilt Sven, wehrt sich aber vehement gegen die Unterstellung, nicht das Zeug für die Weltumradelung zu haben.
» Mein Problem ist ein ganz anderes«, erklärt er. » Ich habe Angst, dass ich nicht mehr aufhören kann, wenn ich erst mal losgefahren bin. So wie Manfred Müller und Paul-Ernst Lührs in ihrer Ente. Die waren zwanzig Jahre unterwegs! Oder dieses Ehepaar aus der Schweiz, die fahren seit siebenundzwanzig Jahren um die Welt.«
» Ja, und?«
» Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas gibt, für das es sich lohnt zurückzukommen.«
Ihn daran zu erinnern, dass er biologisch Vater wird und ruhig etwas mehr Interesse an dem Kind zeigen könnte, das ich für ihn mit Jessi großziehen möchte, verkneife ich mir.
» Verlieb dich doch.«
Sven lacht auf, schüttelt den Kopf und benimmt sich so unsvennig, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Er stottert etwas von wegen Unsinn, er doch nicht, in wen denn auch, er kommt ja nicht unter Menschen. Dabei läuft er knallrot an und fährt sich wieder und wieder mit der Hand durch die Haare. Das ist nicht der Sven, den ich kenne. Und das kann nur eins bedeuten: Er muss sich schon verliebt haben, auch wenn er das bestreitet.
Unnötig zu sagen, dass es mir egal ist, in wen.
Musikmesse
»Die Popkomm wurde im Jahr 2009 überraschend abgesagt und ist seit 2010 ein Teil der Berlin Music Week.«
Ich bin saugut drauf und vor allem ausgeschlafen, als ich vor dem Haus stehe, in dem Hip FM seine Studios hat. Ersteres, weil mich gerade eben Jessi angerufen hat, um mir zu sagen, dass sie mich vermisst. Mein sofort unterbreitetes Angebot, wieder nach Hause zu kommen, wurde allerdings abgelehnt. Nach allem, was ich über mich erzählt hätte, nach meiner allumfassenden Beichte, sei es besser, wenn ich mir noch etwas Zeit gönnen würde, um mit mir ins Reine zu kommen.
» Na ja«, sagte ich, » ich habe inzwischen ein gutes Gefühl.«
» Ein gutes Gefühl allein reicht nicht.«
» Ich meine ja nur. Ich miste meinen Saustall momentan ziemlich aus und werde keine Panik mehr schieben.«
» Wovor?«
» Zum Beispiel, dass ich eine Familie ernähren muss. Darf.«
Schweigen.
» Und wie kommst du darauf, dass das allein von dir abhängt? Ich hab keine Lust, meinen Job aufzugeben.«
Jessis Unterton wurde wieder leicht gereizt, und ich beschloss, das Thema Ernährer gleich wieder runterzukochen.
» Nee, klar, das sollst du auch nicht. Aber so, wie ich gerade arbeite, kann es ja auch nicht weitergehen. Das meinte ich.«
» Okay. Und versteh mich nicht falsch: Ich hätte dich auch am liebsten bei mir. Trotzdem halte ich es für die beste Lösung, wenn du dich mal voll auf dich konzentrieren kannst und mich nicht ständig im Nebenzimmer hast.«
» Ein paar Tage noch?«
» Ja. Ich vermisse dich wirklich.«
» Ich dich mehr.«
» Ich weiß.«
Und dann habe ich in den Hörer geschmatzt, das erste Mal seit geschätzten einunddreißig Jahren. Damals hat meine Großmutter immer ein Bussi durch den Hörer verlangt. Was angenehmer war, als den Satz » Durch die Bibel spricht der liebe Gott zu uns« runterzubeten, was mein Opa immer vor dem Auflegen erwartete. Könnte ich ja das nächste Mal bringen, wenn ich mit Jessi telefoniere.
Jetzt lege ich, leicht von mir selbst irritiert, auf und öffne die Pforte zu Hip FM . Da ich seit gut fünfzehn Jahren keinen Radiosender mehr betreten habe, bin ich doch glatt ein wenig nervös. Damals wurde gerade der Sprung von der CD zum digitalen Musikserver vollzogen. Das war der Anfang des gnadenlosen Formatradios, das Ende einer Ära, in der Moderatoren noch einen Stapel CD s vom Musikredakteur in die Hand gedrückt kriegten, um ihre Sendungen zu bestreiten. Da kam es noch vor, dass in der Morgenshow ein Song wie » Hell is around the corner« von Tricky lief, weil der diensthabende Redakteur am Vorabend abgestürzt, verlassen oder von Suizidgedanken gepeinigt worden war. Nicht unbedingt ein Toptitel, wenn man danach am Mikrofon gute Laune unter den Hörern auf dem Weg zur Arbeit verbreiten soll.
Die elektronische Musikplanung hat Moderatoren und
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