Freude am Durchblick
aus eigener Erfahrung mit dem Weitsichtigen mitzufühlen und ihn in der Therapie zu begleiten.
Bei der Weitsichtigkeit (Hyperopie) besteht wie bei der Kurzsichtigkeit eine Diskrepanz zwischen der Brechkraft der Linse und dem Ort der Bildentstehung. In dem Fall liegt der Brennpunkt jedoch nicht vor, sondern hinter der Netzhaut. Dies kann (im Gegensatz zum Kurzsichtigen) der schwach Weitsichtige durch eine starke Krümmung der Augenlinse ausgleichen, sodass eine schwache Weitsichtigkeit oftmals gar nicht auffällt. Im Gegenteil: Der schwach Weitsichtige sieht besonders gut und kontrastreich in der Ferne, vergleichbar mit einem überkorrigierten Kurzsichtigen.
Der schwach Weitsichtige spannt die Augenlinse automatisch an, um in der Ferne gut zu sehen. Er sieht in der Ferne in der Regel überdurchschnittlich gut. Er braucht eher eine Nahbrille, um im Nahbereich deutlicher zu sehen.
Beim stark Weitsichtigen reicht die Anspannung der Augenlinse nicht mehr aus, um das Bild scharf auf die Netzhaut zu bringen – egal ob sich das Objekt in der Ferne oder in der Nähe befindet. Er benötigt eine Brille, die es ihm ermöglicht, gut und entspannt zu sehen.
Wir werden alle mit einer Weitsichtigkeit von etwa + 3,0 Dioptrien geboren. Die Ich-Prägung, die wir als Kind erfahren, geht in den ersten Lebensjahren mit der Reduzierung der Weitsichtigkeit einher. Der Ausgleich der Weitsichtigkeit ist bei uns allen ein Teil unseres Entwicklungsprozesses.
Eine Weitsichtigkeit von über drei Dioptrien sollte auch im Kindesalter – zumindest teilweise – korrigiert werden, da sonst die Gefahr einer Schielentwicklung oder einer Entwicklungshemmung besteht. Eine angemessene Brille hilft dem Weitsichtigen, dass er sich entspannt konzentrieren kann. Mir ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass mit einer Teilkorrektur bei Kindern häufig mehr erreicht wird als durch eine Vollkorrektur.
Hierzu ein Praxisbeispiel:
In meine Praxis kam der sechsjährige Lukas mit seinen Eltern. Lukas ist ein aufgewecktes Kind, an allem interessiert, er konnte sich aber nicht auf das konzentrieren, was man von ihm verlangte. Er war in seiner Entwicklung zurückgeblieben und noch nicht schulreif. Die Augenprüfung ergab eine Weitsichtigkeit von + 6,0 Dioptrien. Seine Sehleistung ohne Brille lag nur bei 10 %. Mit Gläsern von + 6,0 Dioptrien erreichte Lukas dennoch nur eine Sehleistung von 40 %. Auch mit Gläsern von + 4,0 Dioptrien erreichte Lukas dieselbe Sehleistung von 40 %. Ich verordnete Lukas deshalb eine erste Brille mit Gläsern von + 4,0 Dioptrien.
Nach einem Jahr kamen die Eltern mit dem kleinen Lukas zu einem Kontrolltermin in die Praxis. Die Sehprüfung ergab, dass Lukas mittlerweile mit seiner + 4,0-Dioptrien-Brille eine Sehleistung von 100 % erreicht hatte. Die Eltern berichteten, dass in dem einen Jahr Lukas seinen ganzen Entwicklungsrückstand aufgeholt und sich prächtig entwickelt hatte. Die Brille hatte es ihm erlaubt, die Außenwelt wahrzunehmen, und wie eine Leiter zu einem guten Sehen gewirkt (siehe dazu die Abbildung im Kapitel »Die Therapiebrille« ). Neurologisch betrachtet: Die Therapiebrille hatte es Lukas ermöglicht, die Außenreize einzuordnen. Dadurch wurde die Bildung neuer Synapsen angeregt.
Der Weitsichtige im Vergleich zum Kurzsichtigen
Der Kurzsichtige muss sich entspannen, um besser sehen zu können, hat aber die Möglichkeit, in der Nähe entspannt gut sehen zu können. Der Weitsichtige muss sich dagegen anspannen, um in der Ferne und in der Nähe gut sehen zu können. Diese Anspannung kann er auf Dauer nicht aufrechterhalten. Es ist, als würde er den ganzen Tag mit Hanteln durch die Wohnung laufen.
Es ist wichtig zu verstehen, warum der Weitsichtige permanent abschweift: Für ihn bedeutet Konzentration wesentlich mehr Anspannung als für den Normalsichtigen. Er muss immer wieder abschweifen, um sich entspannen zu können. Der Weitsichtige muss das Spiel zwischen Anspannung und Entspannung der Augenlinse und der Augenmuskeln lernen. Er versucht seine Mitmenschen durch Visionskraft und Fantasie mitzureißen und lässt sich selbst am besten durch Begeisterung und emotional geladene Bilder motivieren. Der Kurzsichtige verlässt sich eher auf Fakten und sucht auch in seiner Überzeugungsarbeit eher logische Argumente anzubringen.
Für den Weitsichtigen ist das große Ganze wichtig und nicht die Suche nach den Details. Er ist der Visionär, der Emotionalere. Sein Fokus ist auf die Welt außerhalb seines
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