Freundinnen wie diese - Koslow, S: Freundinnen wie diese
um.
Stopp!,
hörte ich Autumn befehlen. Ich ignorierte sie. Auf dem Nachttisch stand ein Schnappschuss von Dash, Xander und mir. Das Bild war letzten Monat aufgenommen worden. Ich hatte Fotos ausgedruckt, um sie meinen Eltern zu schicken, dieses aber aussortiert, als ich bei näherem Hinsehen merkte, dass ich die Augen geschlossen hatte. Ich wirkte wie eine Leiche auf dem Bild. Xander dagegen sah besonders gut aus, genau wie Dash. Jamyang musste das Foto aus dem Papierkorb gefischt haben. Sie hatte es in einen kleinen Silberrahmen gesteckt, neben drei aufeinandergestapelten Büchern. Ein Englisch-Wörterbuch lag auf einem Taschenbuch, das ich auch aus anderthalb Meter Entfernung erkannte, eine moralisierende Abhandlung zur Erziehung Dreijähriger. Das Buch darunter war in braunes Leder gebunden und stark abgenutzt, eine Bibel wahrscheinlich. Aber ist Jamyang nicht Buddhistin, dachte ich. Ich ging zum Nachttisch, um genauer nachzusehen.
Es war das Lieblingsbuch meiner Jugendzeit, und es war nicht irgendeine Ausgabe, außerdem war es einer der wenigen Bände in Xanders Tabernakel, der mir gehörte: ›Jane Eyre‹, die Seiten brüchig und das Cover abgenutzt, aber dennoch Tausende wert, ein Geschenk von Xander zu unserem zweitenHochzeitstag. Es war das aufmerksamste Geschenk, das ich je bekommen hatte.
Ich stand reglos da und stellte mir vor, wie Jamyang mit der Sprache kämpfte, sich aber dennoch – so wie ich einst – mit der zarten Gouvernante identifizierte, deren schlichte Schönheit, harte Arbeit und offener Charakter den Byron’schen Helden betörte. Ich fragte mich, ob der Byron’sche Held von Thornfield Manor – vielmehr Brooklyn Heights – wusste, dass dieses Buch hier war. Oder um genauer zu sein, ob der Byron’sche Held selbst dieses der armen Heimatlosen empfohlen hatte; ob er es ihr persönlich brachte, in dieses Zimmer; ob er hier verweilte und mit ihrer Zuneigung spielte; ob sich ihr Herz bebend hob. Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, ließ mich aufs Bett fallen und blätterte das Buch rasch durch, auf der Suche nach Hinweisen – ein liebevolles Wort oder ein verräterisches Lesezeichen, vielleicht –, aber Jane, dieses gute Mäuschen, gab keine Geheimnisse preis.
Wütend vor lauter Schuldgefühl legte ich das Buch wieder in sein Versteck unter die anderen Bücher und öffnete die Schublade des Nachttisches. Ich wusste selbst nicht, wonach ich suchte – Antibabypille, Briefe in Xanders Handschrift, Flugtickets nach Venedig? Die Schublade war leer bis auf ein in schwarzes Leder gebundenes Tagebuch. Die Einträge waren jedoch, für mich, unentzifferbar.
Mit einem tiefen Gefühl der Scham sah ich mich selbst als Geisteskranke dasitzen. Hatte ich bei meinen Anstrengungen, eine neue Chloe zu werden, das Wesentliche übersehen?
Ich dachte, ich hätte Fortschritte gemacht. Erst kürzlich hatte ich selbstbewusst einige Seiten aus Zeitschriften herausgerissen, weil mir die Modestile gefielen, und jeden Morgen diese Looks mit Kleidungsstücken aus meinem Schrank zusammengeschustert, oft mit großartigen Ergebnissen. Ich hatte mir noch nie selbst ein Schmuckstück gekauft, aber als ich mit Arthur den Ring für Jules ausgesucht hatte, entdeckteich eine Brosche – eine Eidechse! –, die ich nicht nur gekauft, sondern sogar noch im Preis heruntergehandelt hatte. An die Pinnwand über meinem Schreibtisch hatte ich mir eine Liste geheftet mit sechs Wegen zum Glück, die zu meinem Mantra geworden waren.
Verhalte dich so, wie du dich fühlen willst.
Sei fair.
Hör auf, dich mit anderen zu vergleichen.
Mach dir das Problem klar.
Denk immer daran, nur die Liebe zählt.
Tu, was getan werden muss.
Tu, was getan werden muss! Das würde ich. Wie Jane selbst bereits gesagt hatte, Gesetze und Prinzipien wurden nicht für die Zeiten geschaffen, in denen es keine Versuchung gibt. Ich strich die Bettdecke wieder glatt, schoss aus dem Zimmer und die Treppe hinauf bis in den zweiten Stock. Jamyang mochte ja ein schweigsamer Zaunkönig sein im Vergleich zu dem dummen Kanarienvogel, der ich war, doch Kanarienvögel können wenigstens singen. Keuchend stieß ich die Flügeltüren zu Mr Rochesters Allerheiligstem auf und sog den herben Tabakgeruch ein. Die Bibliothek war der einzige Ort, wo der Hausherr Zigarren zu rauchen pflegte. Die Bücher standen reglos wie Zinnsoldaten in den Regalen, gerade so als wollten sie mich warnen. Doch ich würde mich umsehen. Auf jeden
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