Freundinnen wie diese - Koslow, S: Freundinnen wie diese
geboren. Falls er den Frieden zwischen Sunniten und Schiiten doch nicht aushandeln würde, gab es zumindest keinen Grund dafür, Henry nicht wenigstens den Vorsitz der Auswahlkommission zu übertragen. Dann könnte er Dash, der eine Antilope noch immer nicht von einem Ameisenbären unterscheiden konnte, gleich persönlich ablehnen. Ich hätte mich am liebsten auf die verblichene blaue Chenilletagesdecke des Bettes geworfen – es schien mir im Augenblick der ideale Ort, um in meinem Selbstmitleid zu baden – und das, was ich da gelesen hatte, ausradiert, nicht nur von dem Blatt, sondern auch aus meinem Gedächtnis.
Doch selbst ich kann Haltung bewahren, wenn es darauf ankommt. Leise legte ich den Essay wieder an seinen Platz, griff nach irgendeinem Roman und lief zurück in die Küche. Ich fand mich bemerkenswert lässig, als ich Talia zeigte, was ich mir ausgesucht hatte. Das Buch hatte über achthundert Seiten und ein anzüglich zerwühltes Bett auf dem Cover.
Talia schnitt Tomaten. »›Das karmesinrote Blütenblatt‹? Eine fesselnde Geschichte aus dem viktorianischen England, in der eine Hure zur Dame der vornehmen Gesellschaft wird – von einem Charles Dickens des 21. Jahrhunderts. Abigail war vor einigen Jahren einen ganzen Sommer lang völlig darin versunken. Man musste schon in Ohnmacht fallen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.«
Wenigstens hatte ich mir das richtige Buch ausgesucht. »Kann ich dir helfen?«, fragte ich schuldbewusst und ich empfandauch noch etwas, das ich allerdings nicht klar benennen konnte. Ich wusste, es war ein eher bitteres Gefühl – Eifersucht, Entsetzen, Wut? – mit einem Schuss Verwirrung.
»Wie wär’s mit dem Mais?«, schlug Talia vor.
Ich setzte mich an den Tisch und begann, die hellgrünen seidenen Blätter von den dicken Kolben abzuziehen. Dem Kalender nach war es bereits Herbst, doch dieser Geruch brachte schlagartig den Sommer zurück, und ich sog ihn tief ein, so als wäre dieser Duft dringend benötigter Sauerstoff. Ich zwang mich, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren, und zählte, wie oft sich der träge Ventilator unter der Decke drehte. Schweigen breitete sich in der Küche aus, das Talia sicher als schwesterlich empfand.
Natürlich, sagte ich mir, gab es keinen Grund, warum sie und Tom für Henry nicht dieselbe Schule in Betracht ziehen sollten wie Xander und ich für Dash. Sie hatten jedes Recht dazu. Mich überraschten nur die Geschwindigkeit und der Schliff ihrer Anstrengungen, da sie sich – ganz anders als Xander und ich – doch immer als das entspannteste Ehepaar von ganz Brooklyn gaben. Und dann war da noch die Geheimniskrämerei. Nicht, dass die Statuten der Freundschaft völlige Offenheit verlangten. Aber irgendetwas an ihren Anstrengungen wirkte hinterhältig und unaufrichtig.
Ich knirschte mit den Zähnen, während ich die Maiskolben abzog. Glaubten Talia und Tom etwa, dass es nicht auffiel, wie sehr sie auf Xander herabsahen? Dass sie ihn nicht dumm anredeten wegen seines übermäßigen Ehrgeizes war auch schon alles. Eine Woge tiefer Zuneigung für meinen Mann überkam mich. Dieses hübsche Sommerhaus hier, über das Talia sich so gern lustig machte, war ein Schloss verglichen mit dem schäbigen Bungalow, in dem Xander gewohnt hatte, bis ein Lehrer seine Begabung entdeckte und sich dafür einsetzte, dass er ein Stipendium bekam. Erst im Internat hatte er Henry Thomas Wells III., einen Schüler aus bildungsbürgerlichemHause, kennengelernt. Xanders Eltern würden heute noch in jener armseligen Hütte wohnen, wenn ihr einziger Sohn nicht Geld genug verdient hätte, um ihnen ein neues Haus zu kaufen. Nicht, dass Xander das je irgendwelchen unserer Freunde gegenüber erwähnen würde. Er ist zu stolz, um zuzugeben, wie arm seine Familie im Grunde ist.
Ich griff nach einem weiteren Maiskolben und merkte, dass ich das ganze Dutzend binnen kürzester Zeit abgezogen hatte. »Was kann ich sonst noch tun?«, fragte ich.
»Hast du Lust, den Tisch zu decken?« Talia war gerade damit beschäftigt, Olivenöl abzumessen, und nickte zu den offenen Regalen mit dem bunten Fiesta-Geschirr hinüber.
Wie Feuerwerkskörper schossen mir die Fragen durchs Gehirn. Warum hatten sich Tom und Talia gegen eine öffentliche Schule entschieden? Was war aus dem Plan geworden, Henry an einem Programm für hochbegabte Kinder teilnehmen zu lassen? Warum das große Geheimnis um den Aufnahmeantrag, der doch etwas war, worüber Talia normalerweise
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