Frevel im Beinhaus
gebogenen Ausguss, ein Gestell, an welchem mehrere miteinander verbundene Glasgefäße angebracht waren, eine Feuerstelle mit Blasebalg und ein riesiger, turmförmiger philosophischer Ofen, von Neklas auch Athanor genannt. Das unförmige Ding hatte schon zu ihres Vaters Lebzeiten für so manchen Streit gesorgt, denn in seinem Inneren befand sich ein oval zugeschmolzenes Gefäß, in welchem die Substanz, die zum Stein der Transmutation umgeformt werden sollte, über einen längeren Zeitraum schwacher und gleichförmiger Hitze ausgesetzt werden musste. Je nach Beschaffenheit der Substanz stiegen hierbei stinkende Gase auf, die nicht selten das ganze Haus durchdrungen hatten. Schlimmer aber noch waren die immer wieder vorkommenden Unfälle, wenn das Gemisch in dem Gefäß zu heiß geworden und ihrem Vater mit lautem Getöse um die Ohren geflogen war. Dabei zerbrach der teure Behälter, der philosophisches Ei genannt wurde und aus Glas bestand. Neklas ging vorsichtiger mit seinen Glasgefäßen um und schrieb sich jeden Versuchsvorgang sorgfältig auf, um gescheiterte Experimente nicht zweimal durchführen zu müssen. Dennochwar auch ihm schon mehr als ein philosophisches Ei zersprungen.
Die Kosten dafür waren jedoch nichts im Vergleich zu dem Vermögen, das in Form von Büchern und Handschriften in den Regalen ringsum an den Wänden lagerte. Neklas hatte sich eine Bibliothek zusammengesammelt. Dazwischen reihten sich dicht an dicht Gefäße und Phiolen mit den unterschiedlichsten Essenzen.
Lauschend blieb Adelina in der Tür des Laboratoriums stehen und entzündete den Kienspan, der neben der Tür in einer Wandhalterung klemmte. Von oben waren die Stimmen der Kinder zu hören und dann Franziska, die Colin zur Ordnung rief und in den Hof hinausschickte. Adelina nickte zufrieden vor sich hin und steuerte auf eine der Truhen unter den Regalen an der rechten Wand zu. Sie zog die Truhe mit einiger Anstrengung von der Wand fort, lauschte noch einmal und kniete sich daraufhin in die entstandene Lücke.
Mit den Fingern grub sie die Ritzen um einen der Steine des massiven Mauerwerks frei und zog ihn vorsichtig heraus. Umständlich beugte sie sich vor und leuchtete mit ihrer Lampe in die kleine Öffnung, dann griff sie beherzt hinein. Ihre Fingerspitzen stießen erst gegen etwas Weiches – den Beutel, der Neklas’ Sezierbesteck enthielt – und dann gegen einen Bücherstapel. Zischend stieß sie die Luft aus und tastete vorsichtig weiter. Sie konnte den Brief, von dem Neklas gesprochen hatte, jedoch nicht finden. Hatte er ihn vielleicht in eines der Bücher hineingeschoben? Stirnrunzelnd griff sie sich das Büchlein, das zuoberst auf dem Stapel lag. Es handelte sich eher um einen dünnen Stapel Papiere, die von mehreren Klammern zusammengehalten wurden. Ohne größeres Interesse blätterte sie sie durch und legte sie beiseite, um das nächste Buch aus dem Versteck zu ziehen. Erst beim allerletzten Buch wurde sie fündig: Der besagteBrief, den einst Thomasius aufgesetzt hatte, um verschiedene Geistliche daran zu hindern, eine junge Jüdin zu taufen, die Meister Jupp hatte ehelichen wollen, steckte zwischen den letzten Seiten des alchemistischen Werks, welches Adelina ebenfalls nicht weiter beachtete. Sie hätte die geheime Sprache, in der es verfasst war, sowieso nicht verstanden. Dass es sich um ein verbotenes Werk handelte, war ihr jedoch sehr wohl bewusst, denn sonst hätte Neklas es nicht in der Wand versteckt.
Seufzend schob sie sich den Brief in ihren Ärmel und legte die Bücher nacheinander wieder zurück in das dunkle Loch. Einen dünnen Lederband wollte sie als Letztes zurücklegen, doch die kunstvolle Gravur auf dem Deckel ließ sie zögern. Das Bild zeigte einen auf den Hinterfüßen stehenden Löwen, der aussah, als wolle er mit seinen Tatzen nach etwas greifen. Kopfschüttelnd, da ihre Neugier nun doch geweckt war, schlug sie das Buch auf und blätterte einige der Pergamentseiten um. Die Schrift war kunstvoll – und nicht lesbar. Um was für eine Sprache es sich auch handeln mochte – Latein war es jedenfalls nicht –, die bunten Bilder, die sie begleiteten, sprachen ihre eigene Sprache.
Adelina stieß ein empörtes Schnauben aus. «So etwas!», grollte sie. «Pfui, Neklas, das ist kein alchemistisches Buch, sondern eines mit schmutzigen Bildern!»
«Mutter?»
Adelina zuckte heftig zusammen und ließ das Buch vor Schreck fallen, als sie hinter sich Griets Stimme vernahm. «Du liebe Zeit, Kind», rief sie
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