Frevel im Beinhaus
Adelina stand derzeit nicht der Kopf danach, sich darüber Gedanken zu machen, deshalb schwieg sie zu der Angelegenheit und verschob die Bestrafung auf später.
Sie rief Ludmilla hinunter in die Küche, die sich während des Besuchs ihres Bruders vorsichtshalber oben in der Schlafkammer aufgehalten hatte. Gemeinsam mit Jupp und Marie saßen sie am Küchentisch und überlegten, welche Schritte sie als Nächstes tun sollten. Diesmal war es Stache, der an der Tür Wache hielt, denn Greverode hatte kurz zuvor wutentbrannt das Haus verlassen, um dem Vogt und den Schöffen Bericht zu erstatten.
Einerseits war Adelina froh, ihn für eine oder zwei Stunden los zu sein, doch andererseits hatte sie das Gefühl, mit ihren Freunden nicht mehr offen sprechen zu können, da sie Stache nicht traute. Dieser Umstand verwunderte sie mehr, als sie zugeben mochte: Sie vertraute Greverode mittlerweile. Ganz gleich, wie jähzornig und unzugänglich er war und wie wenig sie ihn verstand – er hatte durch sein Verhalten schon mehrfach gezeigt, dass er auf ihrer Seite stand. Das hatte Vater Emilianus tatsächlich richtig erkannt. Wenn er wirklich so großen Einfluss besaß, wie Greverode gesagthatte, war anzunehmen, dass der Hauptmann sich heute in nicht unbeträchtliche Gefahr begeben hatte.
Warum er plötzlich für sie eintrat, begriff Adelina nach wie vor nicht. Sie wurde aus seinem Verhalten ihr gegenüber einfach nicht klug. Obgleich sie seine Ablehnung und Verachtung tagtäglich zu spüren bekam, wähnte sie unter all dem Groll noch etwas anderes. Etwas, das er offenbar mit allen Mitteln zu verbergen suchte.
Sie fasste für ihre Freunde zusammen, was sich während des Besuchs der beiden Geistlichen zugetragen hatte, und schloss dann: «Ich fürchte, Thomasius hat geahnt, dass wir ihn unter Druck setzen wollten. Deshalb hat er diesen Vater Emilianus mitgebracht. Ein unangenehmer Mensch.»
«Und gefährlich, nach allem, was du uns erzählt hast», sagte Jupp. «Du hättest ihn wirklich nicht so reizen dürfen, obwohl …» Er hob rasch die Hand, bevor Adelina etwas sagen konnte. «… es mir vermutlich nicht anders gegangen wäre. Ich mache dir keine Vorwürfe. Leider stehen wir nun genauso da wie zuvor. Es wird schwierig, Thomasius jetzt noch einmal zu befragen. Er wird sich hinter seinem neuen Freund verstecken und uns keinerlei Angriffsfläche mehr bieten.»
«Aber wenn man bekannt machen würde, welche Rolle er damals in dem Prozess in Italien gespielt hat», warf Marie ein.
Jupp schüttelte sogleich den Kopf. «Das können wir nicht beweisen.» Nachdenklich strich er sich durch den Bart. «Nein, wir müssen es anders anpacken. Ich kann zwar versuchen, Thomasius noch einmal aus seinem Schneckenhaus herauszulocken, aber gleichzeitig sollten wir uns stärker darauf konzentrieren, denjenigen zu finden, der hinter alldem steckt. Lasst uns die Ereignisse seit dem Knochenraub noch einmal Schritt für Schritt durchgehen. Möglicherweisefällt uns dabei etwas ein. Wir müssen bisher etwas übersehen haben.»
***
«Es geht mir wieder gut, Ludmilla. Du brauchst nicht den ganzen Tag bei mir zu bleiben», sagte Adelina am Nachmittag, nachdem sich Jupp und Marie verabschiedet hatten. Ihre Überlegungen hatten sie leider nicht sehr viel weitergebracht. Selbst nachdem sie die Mädchen und das Gesinde befragt hatten, blieb das Ergebnis dasselbe. Niemand konnte sich an mehr als die nackten Ereignisse der vergangenen Tage erinnern. Nicht einer von ihnen hegte einen Verdacht, dem nachzugehen sich lohnen würde.
Greverode war noch nicht zurückgekehrt, und Stache hatte sich in der Apotheke postiert – wohl, um seine Ruhe zu haben, denn sein Dienst in Adelinas Haus schien ihm auf die Nerven zu gehen. Da die Gelegenheit günstig schien, waren Adelina und Ludmilla in den Keller hinabgestiegen, um noch einmal die Falltür zu öffnen. Auf Adelinas Worte hin zuckte die alte Hebamme nur mit den Schultern. «Wer soll dir denn sonst hier unten helfen? Jupp konntest du wegen des Soldaten nichts von der Falltür verraten, und die Kinder oder das Gesinde solltest du vorerst besser nicht einweihen. Jedenfalls nicht, bevor wir nicht wissen, was es mit den geheimen Räumen dort unten auf sich hat.»
Entschlossen machte sich Ludmilla daran, die Holzscheite aus dem Eichenkasten herauszuklauben. Adelina half ihr dabei, und gemeinsam schafften sie es wesentlich schneller, die Kiste fortzuschieben und die Falltür zu öffnen. Beherzt nahm die Alte einen
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