Frevelopfer
lösen. Der Tag verging mit den Verhören von Vater und Tochter, die in keinem Punkt von ihren Aussagen abwichen. Nína war überzeugter denn je, dass sie Runólfur getötet hatte, und inzwischen hoffte sie das sogar. Konráð argumentierte inzwischen in eine andere Richtung, er war überzeugt, dass Nína den Mord nicht hätte bewerkstelligen können, stritt jedoch rundheraus ab, dass er selbst auf Runólfur losgegangen war. Es war nicht möglich, mit irgendwelchen Tests nachzuweisen, dass Nína unter dem Einfluss einer Droge gestanden hatte und deswegen nicht imstande gewesen war, es mit Runólfur aufzunehmen. Die Kriminalpolizei hatte nichts als ihre Aussage, dass sie sich an nichts erinnern konnte. Es war allerdings keineswegs auszuschließen, dass sie die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein gewesen war. Und dann war da noch die Sache mit Runólfur selbst. Er hatte das Rohypnol wohl kaum freiwillig geschluckt, irgendjemand musste es ihm hineingezwungen haben, jemand, der wollte, dass er die Wirkung dieses Mittels am eigenen Leib zu spüren bekäme. War es denkbar, dass Nína ihn gezwungen hatte, es zu nehmen? Es gab noch viele unbeantwortete Fragen. Elínborg hielt Vater und Tochter für die wahrscheinlichsten Täter. Nína hatte die Tat zwar nicht direkt zugegeben, aber Elínborg ging davon aus, dass sie binnen Kurzem ein volles Geständnis ablegen würde und dass die beiden ihnen sagen würden, wo sich die Mordwaffe befand. Freuen konnte sie sich nicht darüber. Runólfur hatte grundanständige Menschen mit in den Dreck gezogen.
Am Nachmittag hatte sie erneut ihr Auto in sicherer Entfernung zu Eðvarðs Haus geparkt und beobachtete jede Bewegung in der näheren Umgebung. Sein Auto stand an seinem Platz. Elínborg hatte sich über seinen Stundenplan informiert, sein Unterricht war meist um drei Uhr beendet. Sie hatte keine Ahnung, was es ihr bringen sollte, Eðvarð nachzuspionieren. Möglicherweise hatte sie zu viel Mitgefühl für Konráð und seine Tochter und war zu sehr daran interessiert, eine andere Lösung zu finden.
Von ihrem Platz im Auto aus konnte sie die kleine Werft sehen, die schon bald einem Wohnviertel würde weichen müssen. Auf diese Weise verschwanden viele historische Bauten unwiederbringlich. Unwillkürlich fiel ihr Erlendur ein, der sich an die alten Zeiten klammerte. Sie war nicht immer einverstanden mit seiner Haltung, der Fortschritt brauchte auch seinen Raum. Erlendur hatte sich häufig genug über das Gröndal-Haus ausgelassen, das bald ins Freilichtmuseum nach Árbær verpflanzt werden sollte. Elínborg hatte ihr Auto ganz in der Nähe davon geparkt. Erlendur war nicht müde geworden, sich darüber aufzuregen, dass das Haus nicht dort stehen bleiben durfte, wo es war, im Reykjavík der guten alten Zeit, mit der das Haus, seine Geschichte und seine Existenz untrennbar verbunden waren. Seiner Meinung nach handelte es sich um ein bedeutsames Haus; es war benannt nach dem Dichter Benedikt Gröndal, der im neunzehnten Jahrhundert gelebt und in diesem Haus eines von Erlendurs literarischen Lieblingswerken geschrieben hatte, Zeitvertreib . Das Gröndal-Haus war eines von den wenigen Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, die es in Reykjavík noch gab. Und jetzt sollte es mit seinen Wurzeln herausgerissen und auf irgendeinen Schrottplatz in Árbær verpflanzt werden!
Elínborg hatte schon über eine Stunde gewartet, als sich bei Eðvarðs Haus endlich etwas rührte. Die Tür öffnete sich, Eðvarð kam heraus, setzte sich in sein Auto und fuhr los. Sie folgte ihm mit einigem Abstand. Zuerst fuhr er zu einem Supermarkt und anschließend zu einer Wäscherei. Als Nächstes stattete er einem Videoverleih einen Besuch ab, der vor der Geschäftsaufgabe stand. »Räumungsverkauf« stand auf einem Plakat an der Tür. Eðvarð hielt sich dort lange auf, und als er endlich wieder zum Vorschein kam, trug er tütenweise Videos und cd s zum Auto und packte sie in den Kofferraum. Er unterhielt sich noch eine Weile mit einem Mann aus dem Verleih, der ihm auf die Straße gfolgt war. Schließlich fuhr er zu dem Geschäft des Telefonanbieters, bei dem Runólfur gearbeitet hatte. Durch das Schaufenster beobachtete Elínborg, wie er sich neue Handys ansah. Ein Angestellter bediente ihn, und nach einiger Zeit hatte Eðvarð ein Handy ausgewählt und kaufte es. Anschließend fuhr er wieder in Richtung Westend. Unterwegs hielt er bei einer Imbissstube, um etwas zu essen. Es verging wieder einige Zeit, und
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