Friedemann Bach
hab' ich dich!«
»Ja, Towadei!« hauchte er, und unter dem linden Streicheln ihrer warmen, weichen Hand überkam ihn eine gelöste, selige Müdigkeit. Er schloß die Lider und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
War es schon Tag, war es noch Nacht? Er erwachte. Undurchdringliche Finsternis umgab ihn, und ein feuchter, betäubender Duft zog in lauen Wellen über ihn hin. Ein banges Gefühl des Alleinseins und der Hilflosigkeit packte ihn. Irgendwoher kommend, nah und doch fern, hallte ein langgedehnter, dumpfer metallener Ton an sein Ohr, dem ein vielstimmiger, langsamer, fast klagender Gesang folgte:
»Mutter der Armen, o Nacht! o Nacht!
Hast den Verlornen zurückgebracht,
O Nacht!
Herrin von Liebes- und Todesweh,
Gepriesen seist du, Bhowané!
Schwarze Bhowané!«
Friedemann horchte auf. Der tiefe Schmerz, die geheimnisvolle, finstere Gläubigkeit und ein fremder, südlicher Zauber, der diese getragene Melodie durchströmte, machten auf ihn einen unbeschreiblichen Eindruck. Ihm war, als wenn seine Genossen, selbst unaussprechlich elend, ihn, den Unglücklichen, grüßten, und eine tiefe, kindliche Rührung, die er lange Jahre nicht empfunden hatte, kam über ihn. Eine Sehnsucht nach Liebe, nach einem heiligen Etwas, an das er sich klammern könne, das ihn mit trauten Armen an sich zöge, an dessen Brust er sich ausweinen dürfe, packte ihn mit steigender Gewalt, und das Grab des Vaters, alles, was er versäumt und worin er geirrt hatte, rüttelte mit Reue an seiner Seele. Er schrie auf in Schmerz und Verzweiflung.
In dem Dunkel um ihn glomm plötzlich ein Lichtfunke auf, ein zweiter und dritter; sie wurden zu Flammen, vereinigten sich zum breiten Schein, und in der wachsenden Helle zeigte sich die Weite einer großen Felsenhöhle, an deren Wänden dicht gedrängt die bettelhaften Zigeuner, Männer, Weiber und Kinder, hockten und ihm ihre Arme entgegenstreckten. Vor ihm saßen drei Gestalten im Dreieck, Rücken an Rücken auf einem schwarzen Tuch am Boden; sie waren in leinene Tücher gekleidet, deren Weiß die Bronze ihrer Gesichter grell unterstrich. Links saß der Dadi, das Oberhaupt der Genossenschaft; er trug als einziges Abzeichen seiner Würde eine kurze Riemenpeitsche. In der Mitte befand sich Towadei; sie hielt eine Alraunwurzel im Schoß, deren seltsam gestaltete Haarwurzeln wie ein Büschel über ihre Hände herabhingen. Rechts hockte Papinori; sein Kopf war kahl geschoren bis auf eine einzige schwarze, sehr lange Locke, die auf seine rechte Schulter fiel. In seiner Hand hielt er das Eisen einer Sense, deren Schneide sägeartig gezahnt war.
In dem Zustand der Nervenüberreizung, in dem Friedemann sich befand, kam ihm die seltsame Schaustellung in keiner Weise gaukelhaft oder auch nur verwunderlich vor, und es erschien ihm fast wie eine Selbstverständlichkeit, als nun vier Männer, darunter Guru und Hanick, händeschüttelnd zu ihm traten und ihn zwischen Feuer und Triasgruppe führten, während die Zuschauer in den Begrüßungsruf »Becrate, becrate!« ausbrachen. Er weigerte sich nicht im mindesten, sich niederzulegen und eine merkwürdige Prozedur an sich vornehmen zu lassen: Eine Schüssel mit Milch wurde Towadei zugereicht, und darin badete sie, den Kopf leise hin und her wiegend, die Alraunwurzel; dazu sang sie mit bewegter Stimme eine kurze Strophe, die von den anderen murmelnd wiederholt wurde. Einen Teil der solchermaßen geweihten Milch goß sie Friedemann auf den Leib, einen zweiten auf die Brust, mit dem Rest befeuchtete sie seine Stirne. Dann rief sie laut: »Du bist ein Geiger, ein ›Schetrar‹, und Schetrar sollst du heißen!«
»Becrate Schetrar!« jubelte die Versammlung ihm zu, und er wußte, daß die Zeremonie seine Zigeunertaufe gewesen war. Towadei richtete ihn auf, der Dadi küßte ihn und sagte: »So sei denn mein Sohn und unser Bruder! Gedenke der Nacht und des Todes! Liebe uns, wie wir dich lieben werden, und sei treu! Töricht sind noch deines Hirnes Gedanken, zähme sie im Gemüt und lerne in aller Not zufrieden sein!«
Auch die übrigen Zigeuner umdrängten ihn nun, streckten ihm die Hände entgegen und schüttelten sie mit lebhaften Versicherungen der Liebe. »Solange du bei uns bist, sollst du nicht Mangel leiden«, betonte Guru, »die große Mutter, die uns beschützt, wird sich auch deiner annehmen, und wir werden dich nicht verlassen!«
Noch einmal erscholl das Loblied der Nacht. Dann wurde die Höhle leer. Nur das Feuer brannte hell, und Towadei stand neben
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