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Frieden auf Erden

Frieden auf Erden

Titel: Frieden auf Erden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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und erinnerte mich plötzlich an einen kurzen Schmerz und seine Ursache. Als ich ins Innere des Tachistoskops geguckt hatte, war ich mit dem linken Bein unterhalb des Knies gegen etwas Hartes gestoßen. Es hatte weh getan, aber ich hatte nicht darauf geachtet. Da mußte es passiert sein.
    »Höchst lehrreich«, bemerkte Hous. »Der linke Arm kann keine komplizierten Bewegungen ausführen, ohne daß sich die Muskelspannung auf die rechte Körperhälfte überträgt. Folglich war es notwendig, Sie abzulenken.«
    Ich wies auf den blauen Fleck. »Damit?«
    »Genau. Zusammenspiel des linken Beins und des linken Arms. Durch den Schmerz spürten Sie eine Sekunde nichts anderes. Das genügte.«
    »Kommt so was häufig vor?«
    »Nein. Außerordentlich selten.«
    »Könnte jemand, der mir ernsthaft an den Kragen will, auch solche Sachen machen? Mich zum Beispiel auf der rechten Seite piken, damit sie sich nicht einmischt, wenn die linke ins Verhör genommen wird?«
    »Ein Fachmann würde es anders machen. Er würde Ihnen ein Kurzzeitnarkotikum in die linke Halsschlagader, die Carotis, spritzen. Das linke Gehirn wird eingeschläfert, nur das rechte wacht. Das hält mehrere Minuten an.«
    »Und das genügt?«
    »Wenn es nicht genügt, führt man eine kleine Kanüle in die Schlagader ein und verabreicht das Narkotikum tropfenweise. Nach einiger Zeit schläft auch die rechte Halbkugel ein, denn die Arterien im Gehirn sind durch sogenannte Kolateralen verbunden. Da muß man ein wenig abwarten, ehe man von vorn anfangen kann.«
    Ich ließ das Hosenbein hinunterrutschen und stand auf.
    »Ich weiß nicht, wie lange ich es fertigbringe, hier herumzusitzen und auf sonstwas zu warten. Diese Ungewißheit ist das Schlimmste. Nehmen Sie mich in die Mangel, Doktor.«
    »Können Sie das nicht selber tun? Sie verständigen sich doch schon einigermaßen durch die eine Hand mit der anderen. Haben Sie mit dieser Methode etwas erfahren?«
    »Nicht viel.«
    »Verweigert sie die Antwort?«
    »Sie antwortet unverständlich. Ich weiß nur so viel, daß sie sich anders erinnert als ich. Vielleicht in ganzen Bildern und ganzen Szenen. Wenn sie es in Worte fassen, durch Zeichen weitergeben will, kommen Rätsel heraus, die nicht zu lösen sind. Man müßte alles aufzeichnen können, um es als ein spezifisches Stenogramm zu betrachten. So sehe ich das.«
    »Es ist eher eine Aufgabe für Geheimschriftenkundler als für Mediziner. Nehmen wir an, solch eine Aufzeichnung ließe sich machen. Was hätten Sie davon?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ich auch nicht. Für jetzt wünsche ich Ihnen erst mal eine gute Nacht.«
    Er ging, ich löschte das Licht und legte mich hin, konnte aber nicht einschlafen. Auf einmal hob sich meine linke Hand und streichelte mir langsam mehrmals das Gesicht. Offenbar hatte sie Mitleid mit mir. Ich stand auf, schaltete die Lampe an, nahm ein Schlafmittel und sank, nachdem ich die beiden Ijon Tichys solcherart benebelt hatte, in tiefe Bewußtlosigkeit.
     
    Meine Lage war nicht nur schlimm, sie war idiotisch. Ich saß in einem Sanatorium versteckt, ohne zu wissen, vor wem. Ich wartete, ohne zu wissen, worauf. Ich suchte mich mit mir durch die Hand zu verständigen, aber obwohl sie sogar munterer antwortete als zuvor, verstand ich sie nicht. Ich kramte in der Sanatoriumsbibliothek und schleppte Lehrbücher, Monographien und ganze Stöße von Fachzeitschriften auf mein Zimmer, um endlich herauszukriegen, wer oder was ich auf der rechten Seite war. Ich stellte der Hand Fragen, die sie mit sichtlich gutem Willen beantwortete, mehr noch, sie lernte neue Wörter und Wendungen, was mich einerseits zur weiteren Konversation ermutigte, andererseits aber in Sorge versetzte. Ich fürchtete, sie könne mir ebenbürtig oder sogar überlegen werden, ich werde nicht mehr nur mit ihr rechnen, sondern ihr gehorchen müssen, oder es werde zu einem Gerangel und Gezerre kommen, bei dem ich nicht in der Mitte bleiben, sondern zerfetzt oder endgültig halbiert würde, einem zertretenen Käfer ähnlich, bei dem ein Beinpaar vorwärts, ein anderes rückwärts strebt. Ich träumte von Flucht, von Streifzügen an dunklen Abgründen entlang, und ich wußte nicht, welche meiner Hälften das träumte. Was ich aus den Bücherstapeln erfuhr, stimmte mit der Wahrheit überein. Wenn das linke Gehirn keine Verbindung mehr mit dem rechten hat, verkümmert es. Selbst wenn es geschwätzig bleibt, wird die Sprache dürftig, was besonders daran zu erkennen ist, daß es häufig

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