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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Bruder soll auferstehen.«
     
    JOHANNES-EVANGELIUM (PARAPHRASE)
     
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36
    Die Ansicht, es gäbe irgendwelche Grenzen für das Grauen, das der menschliche Geist zu erfassen vermag, ist vermutlich irrig. Im Gegenteil: es sieht so aus, als stellte sich, wenn die Dunkelheit tiefer und tiefer wird, ein Steigerungseffekt ein -- die menschliche Erfahrung neigt, so ungern man es auch zugeben mag, in vieler Hinsicht zu der Vorstellung, daß, wenn der Alptraum schwarz genug ist, Grauen weiteres Grauen hervorbringt, ein zufälliges Unglück weitere, oft vorsätzliche Unglücke zeugt, bis schließlich die Schwärze alles zudeckt. Und die erschreckendste Frage dürfte sein, wieviel Grauen der menschliche Geist zu ertragen vermag, ohne seine wache, offene, unverminderte Gesundheit einzubüßen. Daß solchen Ereignissen eine eigene Komik innewohnt, versteht sich fast von selbst. Von einem bestimmten Punkt an wird alles fast komisch, und das kann der Punkt sein, an dem die geistige Gesundheit entweder obsiegt oder sich biegt und zusammenbricht, der Punkt, an dem sich der Sinn eines Menschen für Humor wieder durchzusetzen beginnt.
    Gedanken dieser Art hätten Louis Creed durch den Kopf gehen können, wenn er nach der Beisetzung seines Sohnes Gage William Creed am 17. Mai logisch gedacht hätte, aber jedes logische Denken -- oder auch nur der Versuch -- endete im Bestattungsinstitut, in dem eine Schlägerei mit seinem Schwiegervater (schlimm genug) zu einem noch grauenhafteren Ereignis führte: dem letzten Akt eines Schauerdramas, der das, was von Rachels schwacher Selbstbeherrschung noch übrig war, vollends zusammenbrechen ließ. Die Folge der kleineren Katastrophen dieses Tages war erst zu Ende, als sie schreiend aus dem Ostsalon des Bestattungsinstituts von Brookings-Smith herausgeführt wurde, in dem Gage in seinem geschlossenen Sarg lag, und sich erst wieder beruhigte, nachdem sie eine Spritze bekommen hatte.
    Die Ironie lag darin, daß ihr diese letzte Episode -- diese Posse des Grauens, könnte man sagen -- erspart geblieben wäre, wenn die Schlägerei zwischen Louis Creed und Mr. Irwin Goldman aus Lake Forest während der Besuchszeit am Vormittag (10 bis 11.30 Uhr) stattgefunden hätte und nicht während der Besuchszeit am Nachmittag (14 bis 15.30 Uhr). Am Vormittag war Rachel nicht anwesend; sie war einfach nicht in der Lage gewesen, zu kommen. Sie war mit Jud Crandall und Steve Masterton zu Hause geblieben. Louis konnte sich nicht vorstellen, wie er die vorausgegangenen fünfzig oder mehr Stunden ohne Jud und Steve durchgestanden hätte.
    Es war ein Segen für Louis -- ein Segen für alle drei noch lebenden Familienmitglieder --, daß Steve so prompt erschienen war. Louis war zumindest zeitweise unfähig, irgendeine Entscheidung zutreffen, selbst eine so geringfügige wie die, seiner Frau eine Spritze zu geben, um ihren größten Schmerz zu betäuben. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß Rachel in ihrem schief zugeknöpften Hauskleid zur Vormittagskondolenz gehen wollte. Ihr Haar war ungekämmt, ungewaschen, wirr. Ihre Augen, leere, braune Kugeln, traten aus Höhlen hervor, so eingesunken, daß sie fast wie Augen in einem lebendigen Schädel wirkten. An diesem Morgen saß sie am Frühstückstisch, kaute auf ungebuttertem Toast herum und äußerte zusammenhanglose Sätze, die keinen Sinn ergaben. Einmal hatte sie unvermittelt gesagt: »Was den Winnebago betrifft, den du kaufen willst, Lou...« Louis hatte 1981 zum letzten Mal von einem Winnebago gesprochen.
    Louis nickte nur und verzehrte weiter sein eigenes Frühstück. Vor ihm stand ein Teller mit Cocoa Bears. Cocoa Bears waren Gages Lieblingsfrühstück gewesen, und an diesem Morgen wollte Louis sie essen. Sie schmeckten widerlich, aber er wollte sie trotzdem. Er trug seinen besten Anzug -- keinen schwarzen, er besaß keinen schwarzen Anzug, aber er war zumindest dunkel anthrazitgrau. Er hatte sich rasiert, geduscht, sein Haar gekämmt. Er sah gut aus, obwohl er völlig unter Schock stand.
    Ellie trug Jeans und eine gelbe Bluse. Sie hatte ein Photo an den Frühstückstisch mitgebracht, von dem sie sich nicht trennen wollte. Das Photo, die Vergrößerung einer Polaroid-Aufnahme, die Rachel mit der SX-70 gemacht hatte, die Louis und die Kinder ihr zum Geburtstag geschenkt hatten, zeigte Gage, der auf einem von

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