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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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er sich wie ein schwer angeschlagener Boxer.
    Sein erster Gedanke war, daß Rachel recht gehabt hatte -- nur zu recht. Irwin Goldman war alt geworden. Wie alt war er jetzt? Achtundfünfzig, neunundfünfzig? Er wirkte wie ein schwerfälliger Siebziger. Mit seinem kahlen Kopf und der Colaflaschen-Brille sah er dem israelischen Premierminister Menachem Begin fast absurd ähnlich. Als Rachel von ihrer Thanksgiving-Reise zurückkam, hatte sie Louis erzählt, Goldman sei gealtert, aber dies hatte Louis nicht erwartet. Möglich, daß es zu Thanksgiving noch nicht so schlimm gewesen war. Zu Thanksgiving hatte der alte Mann noch nicht eines seiner beiden Enkelkinder verloren.
    Dory ging neben ihm, das Gesicht fast unsichtbar unter zwei -- vielleicht sogar drei -- dichten, schwarzen Schleiern. Ihr Haar war in jenem modischen Blau getönt, das bei älteren Damen der gehobenen Mittelschicht so beliebt ist. Sie hielt sich am Arm ihres Mannes fest. Das einzige, was Louis hinter den Schleiern sehen konnte, war das Glitzern von Tränen.
    Plötzlich beschloß er, die Vorfälle der Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Er konnte den alten Groll nicht länger tragen. Er war plötzlich zu schwer geworden.
    »Irwin, Dory«, murmelte er. »Danke, daß ihr gekommen seid.«
    Er hob die Arme, als wollte er Rachels Vater die Hand hinstrecken und gleichzeitig ihre Mutter umarmen, oder vielleicht sogar beide umarmen. Und er spürte dabei, wie ihm zum ersten Mal selbst die Tränen kamen; einen Augenblick lang hatte er die verrückte Idee, als könnte alles wieder ins rechte Lot kommen, als könnte Gage durch seinen Tod das bewirken, als wäre er eine Figur in einem jener romantischen Frauenromane, in denen die Versöhnung der Lohn des Todes ist, und in denen er etwas Positiveres bewirkt als nur diesen sinnlosen, bohrenden Schmerz, der kein Ende zu nehmen schien.
    Dory bewegte sich auf ihn zu, mit einer Geste, die vielleicht darauf hinauslaufen sollte, daß sie gleichfalls die Arme hob. Sie sagte etwas -- »Oh, Louis...«, gefolgt von Unverständlichem --, und dann zog Goldman seine Frau zurück. Einen Augenblick bildeten die drei eine reglose Gruppe, die außer ihnen selbst niemand bemerkte (es sei denn, der Bestattungsunternehmer, der unaufdringlich in der hinteren Ecke des Ostsalons stand, bemerkte sie -- Onkel Carl hätte sie vermutlich bemerkt): Louis mit halb ausgestreckten Armen, Irwin und Dory Goldman so steif und gerade wie Figuren auf einem Hochzeitskuchen.
    Louis sah keine Tränen in den Augen seines Schwiegervaters, sie waren hell und klar vor Haß. (Meint er etwa, ich hätte Gage umgebracht, um ihm eins auszuwischen?) Diese Augen schienen Louis abzuschätzen, in ihm den kleinen, unbedeutenden Mann zu erkennen, der seine Tochter entführt und ihr diesen Kummer bereitet hatte -- und ihn dann fallenzulassen. Seine Augen wanderten nach links -- dahin, wo Gages Sarg stand --, und erst dann milderte sich ihr Ausdruck. Trotzdem unternahm Louis noch einen letzten Versuch. »Irwin«, sagte er. »Dory. Bitte. Wir müssen das gemeinsam durchstehen.«
    »Louis«, sagte Dory wieder -- freundlich, wie es Louis schien --, und dann waren sie vorüber; Irwin Goldman zog seine Frau mit sich, er blickte weder nach rechts noch nach links und sicher nicht auf Louis Creed. Sie näherten sich dem Sarg, und Goldman zog ein kleines, schwarzes Käppchen aus einer Tasche seines Jacketts.
    Ihr habt euch nicht in das Buch eingetragen, dachte Louis, und dann stieß ihm lautlos ein Schwall Magensaft von so unerträglicher Säure auf, daß sich sein Gesicht vor Schmerz verkrampfte.
     
     
    Die vormittägliche Besuchszeit näherte sich ihrem Ende. Louis rief zu Hause an. Jud nahm das Gespräch entgegen und fragte, wie es gegangen wäre. Gut, sagte Louis. Dann fragte er Jud, ob er Steve sprechen könnte.
    »Wenn sie imstande ist, sich anzuziehen, lasse ich sie am Nachmittag kommen«, sagte Steve. »Ist Ihnen das recht?«
    »Ja«, sagte Louis.
    »Wie geht es Ihnen, Louis? Keine Ausflüchte und rund heraus -- wie geht es Ihnen?«
    »Gut«, sagte Louis kurz. »Ich komme zurecht.« Ich habe dafür gesorgt, daß sich alle in das Buch eingetragen haben. Alle außer Dory und Irwin, und die wollten nicht.
    »Gut«, sagte Steve. »Was meinen Sie, wollen wir uns zum Lunch treffen?«
    Lunch. Sich zum Lunch treffen. Der Gedanke schien so abwegig, daß Louis die Science-Fiction-Romane einfielen, die er als Teenager gelesen hatte -- Romane von Robert A. Heinlein, Murray

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