Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
loslassen, sich weigern, es aus der Hand zu geben; doch dann reichte sie es Jud mit einem Ausdruck schmerzlicher Verlegenheit. Er hielt es zwischen seinen großen Fingern, die so plump und unbeholfen wirkten, Finger, die aussahen, als wären sie nur dazu geeignet, die Schaltung schwerer Straßenbaumaschinen zu betätigen oder Eisenbahnwagen aneinanderzukoppeIn -- aber es waren zugleich die Finger, die einen Bienenstachel so geschickt aus Gages Hals gezogen hatten, als gehörten sie einem Zauberer oder einem Chirurgen.
    »Ein hübsches Bild«, sagte Jud. »Er sitzt auf dem Schlitten, und du ziehst ihn. Das hat ihm sicher Spaß gemacht.«
    Ellie nickte und fing an zu weinen.
    Rachel wollte etwas sagen, aber Louis drückte ihren Arm -- schweig einen Moment still .
    »Ich habe ihn oft gezogen«, sagte Ellie weinend, »und dabei hat er immer gelacht. Dann gingen wir hinein, und Mommy machte uns Kakao und sagte, ›Bringt eure Stiefel raus!‹, und Gage griff sich die Stiefel und kreischte ›Tiefel! Tiefel‹, so laut, daß einem die Ohren wehtaten. Weißt du noch, Mommy?«
    Rachel nickte.
    »Ja, das hat bestimmt Spaß gemacht«, sagte Jud und gab ihr das Bild zurück. »Und wenn er jetzt auch tot ist, Ellie, kannst du dich doch immer an ihn erinnern.«
    »Das tue ich«, sagte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe Gage so lieb gehabt, Mr. Crandall.«
    »Das weiß ich, Kleines.« Er steckte den Kopf in den Wagen und küßte sie, und als er ihn wieder herausgezogen hatte, wanderte sein Blick streng zu Louis und Rachel. Rachel erwiderte ihn, verwirrt und ein wenig betroffen, verständnislos. Aber Louis begriff, was er sagen wollte: Was tut ihr für sie? fragten Juds Augen. Euer Sohn ist tot, aber eure Tochter nicht. Was tut ihr für sie?
    Louis wandte den Blick ab. Es gab nichts, was er für sie tun konnte, noch nichts. Sie würde mit ihrem Kummer fertig werden müssen, so gut sie konnte. Sein Denken kreiste einzig und allein um seinen Sohn.

 42
    Am Abend waren frische Wolkenmassen aufgezogen, und ein starker Westwind hatte zu wehen begonnen. Louis schlüpfte in seine Windjacke, zog den Reißverschluß zu und nahm den Schlüssel des Honda vom Haken.
    »Wo willst du hin, Louis?« frage Rachel. Ihre Stimme klang interesselos. Nach dem Abendessen hatte sie wieder angefangen zu weinen, und obwohl sie nur leise weinte, schien sie nicht imstande, damit aufzuhören. Louis hatte sie gezwungen, ein Valium zu nehmen. Nun saß sie vor einer Zeitung mit einem kaum angefangenen Kreuzworträtsel. Ellie hockte im Nebenzinmmer vor dem Fernseher und sah sich ›Das kleine Haus auf der Prärie‹ an; das Photo von Gage lag auf ihrem Schoß.
    »Ich dachte, ich esse irgendwo eine Pizza.«
    »Hast du vorhin nicht genug zu essen bekommen?«
    »Da hatte ich keinen Appetit«, sagte er wahrheitsgemäß und hängte eine Lüge an: »Jetzt habe ich Hunger.«
    Am Nachmittag zwischen drei und sechs hatte in ihrem Haus in Ludlow der Ritus stattgefunden, der Gages Begräbnis abschloß: der Ritus des Essens. Steve Masterton und seine Frau waren mit einem Nudel- und Hackfleischauflauf erschienen. Joan Charlton hatte eine Fleischpastete mitgebracht. »Wenn sie nicht alle wird, hält sie sich, bis Sie sie brauchen«, hatte sie Rachel erklärt. »Fleischpastete läßt sich leicht aufwärmen.« Die Dannikers, die ein Stück weiter oben an der Straße wohnten, steuerten einen gebackenen Schinken bei. Die Goldmans erschienen -- sie sprachen beide kein Wort mit Louis und kamen nicht einmal in seine Nähe, was Louis nicht bedauerte -- mit einem ganzen Sortiment von Aufschnitt und Käse. Auch Jud brachte Käse mit -- eine große Ecke von seinem geliebten »Rattenkäse«. Missy Dandridge kam mit einem Zitronenkuchen. Surrendra Hardu brachte Äpfel. Offenbar überbrückte der Ritus des Essens selbst religiöse Unterschiede.
    Das war die Beerdigungsparty, und obwohl sie ruhig verlief, war sie doch nicht ganz gedämpft. Es wurde erheblich weniger getrunken als bei gewöhnlichen Parties, aber doch etwas. Nach ein paar Bier (erst vergangene Nacht hatte er sich geschworen, das Zeug nie wieder anzurühren, aber im kalten Nachmittagslicht schien die vergangene Nacht unendlich weit zurückzuliegen) dachte Louis daran, ein paar Anekdoten beizusteuern, die sein Onkel Carl ihm erzählt hatte: daß bei Begräbnissen in Sizilien unverheiratete Frauen gelegentlich ein Stück vom Leichentuch abschnitten und es unter ihr Kopfkissen legten, weil sie glaubten,

Weitere Kostenlose Bücher