Friedhof der Kuscheltiere
waren. Und Louis stellte fest, daß er ohnehin nichts zu sagen hatte. Er kam sich ziemlich fremd vor. Er sah Jud nach, völlig damit zufrieden, hier zu stehen.
Nachdem sich die Tür hinter Jud geschlossen hatte, hob er das Gesicht in den Wind; der Müllbeutel mit dem toten Church darin flatterte zwischen seinen Füßen.
Zufrieden.
Ja, das war er. Zum ersten Mal, seit sie nach Maine umgezogen waren, hatte er das Gefühl, am rechten Ort zu sein -- zu Hause zu sein. Wie er so dastand im letzten Licht des Tages, kurz vor Anbruch des Winters, fühlte er sich unglücklich und dennoch auf ganz merkwürdige Weise heiter und seltsam vollständig -- vollständig auf eine Art, die er, soweit er sich erinnern konnte, seit seiner Kindheit nicht mehr empfunden hatte.
Irgendetwas wird hier geschehen, mein Sohn. Und zwar etwas ziemlich Eigenartiges.
Er legte den Kopf in den Nacken und sah die kalten Wintersterne am dunkelwerdenden Himmel.
Wie lange er so stand, wußte er nicht, obwohl es, nach Sekunden und Minuten gemessen, nicht lange gewesen sein konnte. Dann flackerte ein Licht auf Juds Veranda, bewegte sich auf und nieder, näherte sich der Verandatür und kam die Treppe herab. Es war Jud hinter einer starken Taschenlampe. In der anderen Hand trug er etwas, das Louis anfangs für ein großes X hielt -- bis er sah, daß es eine Hacke und eine Schaufel waren.
Er reichte Louis die Schaufel, der sie in seine freie Hand nahm.
»Jud, was zum Kuckuck haben Sie vor? Heute abend können wir ihn nicht mehr begraben.«
»Doch, das können wir. Und das werden wir auch.« Juds Gesicht war hinter dem hellen Licht der Taschenlampe unkenntlich.
»Jud, es ist dunkel. Und spät. Und kalt...«
»Kommen Sie«, sagte Jud. »Bringen wir es hinter uns.«
Louis schüttelte den Kopf und wollte es nochmals versuchen, aber es fiel ihm schwer, Worte zu finden -- Worte der Erklärung und der Vernunft. Sie schienen so bedeutungslos angesichts des dumpfheulenden Windes, der in der Schwärze aufkeimenden Sterne.
»Wenn wir bis morgen warten, sehen wir wenigstens...«
»Liebt sie den Kater?«
»Ja, aber...«
Juds Stimme, leise und irgendwie logisch: »Und Sie lieben sie?«
»Natürlich liebe ich sie. Schließlich ist sie meine...«
»Dann kommen Sie mit.«
Louis kam mit.
Auf dem Weg zum Tierfriedhof an jenem Abend versuchte Louis zweimal, vielleicht sogar dreimal, mit Jud zu sprechen, aber Jud antwortete nicht. Louis gab es auf. Das Gefühl der Zufriedenheit, abwegig unter den gegebenen Umständen, aber eine eindeutige Tatsache, blieb bestehen. Es schien von überallher zu kommen. Die schmerzenden Muskeln, weil er Church in der einen und die Schaufel in der anderen Hand trug, gehörten dazu. Der eiskalte Wind, der die bloßliegende Haut gefühllos machte, gehörte dazu; er pfiff stetig durch die Bäume. Sobald sie im Wald waren, war der Schnee nicht mehr der Rede wert. Das tanzende Licht von Juds Taschenlampe gehörte dazu. Er spürte die durchdringende, unbestreitbare, magische Gegenwart eines Geheimnisses. Eines dunklen Geheimnisses.
Die Schatten wichen zurück; an ihre Stelle trat ein Gefühl der Weite. Schnee schimmerte bleich.
»Ruhen Sie hier aus«, sagte Jud, und Louis setzte den Beutel ab. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Hier ausruhen? Aber sie waren doch angelangt. Er sah die Gedenktafeln im Licht von Juds Lampe, das sich ziellos bewegte, als Jud sich im Schnee niederließ und den Kopf auf die Arme legte.
»Jud? Fehlt Ihnen etwas?«
»Nein. Ich muß nur ein bißchen Atem schöpfen.«
Louis setzte sich neben ihn und atmete ein paarmal tief durch.
»Wissen Sie«, sagte er, »ich fühle mich so wohl, wie seit vielleicht sechs Jahren nicht mehr. Das ist natürlich verrückt, wenn man im Begriff steht, den Kater seiner Tochter zu begraben, aber es ist die reine Wahrheit. Ich fühle mich wohl.«
Jetzt atmete auch Jud ein- oder zweimal tief durch. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Gelegentlich ist es so. Man sucht sich die Zeiten nicht aus, in denen man sich wohlfühlt, ebensowenig wie für das Gegenteil. Dieser Ort hat etwas damit zu tun, aber darauf kann man sich nicht verlassen. Drogensüchtige fühlen sich wohl, wenn sie sich Heroin in die Adern spritzen, und dennoch vergiften sie sich. Vergiften ihre Körper und ihr Denken. Dieser Ort kann die gleiche Wirkung haben; vergessen Sie das niemals, Louis. Und ich hoffe bei Gott, daß ich richtig handle. Ich glaube es zwar, aber sicher sein kann ich
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