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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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so eilig?« fragte ich. »Was ist überhaupt los?«
    »Achten Sie nicht darauf.« Groc schaute seelenruhig zum Kantineneingang hinüber. »Um elf Uhr heute morgen spürte ich eine Erschütterung, als hätte das hintere Ende des Studios einen Eisberg gerammt. Seitdem flitzen die Verrückten hin und her und schöpfen das Wasser heraus. Es macht mich glücklich, so viele Leute so aufgeregt zu sehen. Das läßt mich meinen melancholischen Job vergessen: Sumpfenten aus der Bronx in Brooklyn-Schwäne verwandeln.« Er machte eine Pause und aß einen Happen Fruchtsalat. »Was meinen Sie? Mit welchem Eisberg ist unsere gute alte Titanic kollidiert?«
    Roy lehnte sich zurück und sagte: »Draußen bei der Tischlerei ist ein Unheil geschehen.«
    Ich warf Roy einen mißbilligenden Blick zu. Stanislau Groc erstarrte.
    »Ach, ja«, sagte er langsam. »Ein kleines Problem mit der Galionsfigur, der hölzernen Frauenstatue, die auf die Bounty montiert werden sollte.«
    Ich trat Roy unter dem Tisch ans Bein, doch er lehnte sich nach vorne:
    »Aber das war doch bestimmt nicht der Eisberg, den Sie gerade erwähnten?«
    »Aber nein«, lachte Groc. »Weniger eine arktische Kollision als ein Heißluftballonrennen; alle Heißluftproduzenten und Jasager des Studios sind in Mannys Büro zusammengetrommelt worden. Da wird wohl jemand gefeuert. Und später dann –«, Groc gestikulierte mit seinen kleinen Puppenhänden in Richtung Decke, »– wird derjenige aufwärts fallen!«
    »Was?«
    »Ein Mann wird bei Warner gefeuert und fällt die Treppe rauf zu MGM. Einer wird bei MGM gefeuert, fällt die Treppe rauf zu 20th Century Fox. Nach oben fallen! Isaak Newtons Gesetz auf den Kopf gestellt!« Groc legte eine kleine Pause ein, um über seinen eigenen Geistesblitz zu lächeln. »Ah, aber du, armer Schreiber, wirst es nie schaffen, aufwärts zu fallen, wenn du gefeuert wirst, immer nur abwärts. Ich …«
    Er unterbrach sich, weil …
    Ich hatte ihn so intensiv gemustert, wie ich wahrscheinlich meinen schon lange toten Großvater vor dreißig Jahren in seinem Schlafzimmer im ersten Stock gemustert hatte. Die Bartstoppeln auf meines Großvaters blasser, wächserner Haut, die Augenlider, die er jeden Moment aufzureißen drohte, um mich mit seinem wütenden Blick anzustarren, der Großmutter ein Leben lang im Salon zur Eiskönigin erstarren ließ, all dies stand mir ebenso klar und deutlich vor Augen wie Lenins Post-Mortem-Kosmetiker, der vor mir herumkasperte und an seinem Fruchtsalat knabberte.
    »Suchen Sie vielleicht«, fragte er mich höflich, »die Naht hinter meinen Ohren?«
    »Nein, nein!«
    »Doch, doch!« entgegnete er amüsiert. »Jeder sucht sie!
    Also dann!« Er beugte sich nach vorne, drehte den Kopf nach links und rechts, fuhr mit den Fingern durch seinen Haaransatz und dann über seine Schläfen.
    »Alle Achtung«, sagte ich, »hervorragende Arbeit.«
    »Nein. Perfekt!«
    Tatsächlich waren von den dünnen Linien kaum mehr Schatten zu erkennen, und die flohbißgroßen Einstichnarben waren schon lange verheilt.
    »Haben Sie …«
    »Mich selbst operiert? Meinen eigenen Blinddarm herausgeholt! Und wenn es mir geht wie jener Frau, die, als sie das Paradies der ewigen Jugend, Shangri-La, verließ, wie eine Pflaume schrumpelte!«
    Groc lachte, und ich war von seinem Lachen fasziniert. Es gab keine Minute, in der er nicht fröhlich war. Mir kam es vor, als würde er, sollte ihm das Lachen einmal vergehen, nach Luft japsen und sterben. Immer dieses fröhliche Bellen, das fest installierte Grinsen.
    »Ja bitte?« fragte er, als er bemerkte, daß ich seine Zähne, seine Lippen studierte.
    »Worüber lachen Sie denn andauernd?« fragte ich zurück.
    »Über alles! Haben Sie den Film mit Conrad Veidt gesehen?«
    »Der Mann, der lacht?«
    Ich hatte Groc den Effekt verdorben. »Unmöglich! Sie können ihn nicht kennen!«
    »Meine Mutter war verrückt nach Kino. Nach der Schule holte sie mich immer ab, schon in der ersten, zweiten, dritten Klasse, und ging mit mir ins Kino, die Pickford, Chaney, Chaplin zu sehen … und Conrad Veidt! Sein Mund wurde von den Zigeunern so aufgeschlitzt, daß er sein restliches Leben lang nicht mehr zu Grinsen aufhören konnte. Er verliebt sich in ein blindes Mädchen, das sein furchtbares Grinsen nicht sieht, wird ihr untreu und kommt dann aber, von einer Prinzessin verschmäht, zu der Blinden zurückgekrochen und weint, als ihn ihre Hände, die nicht sehen können, streicheln. Und man sitzt im Elite-Kino auf dem

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