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Friedliche Zeiten - Erzählung

Friedliche Zeiten - Erzählung

Titel: Friedliche Zeiten - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotbuch-Verlag
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verstopfte Nase, weil er immer Schnupfen hatte. Wasa und ich hatten im Winter zwar auch immer Schnupfen, aber bei uns wirkte das Penicillin noch einigermaßen, weil wir während unserer ersten Lebensjahre im Osten gewesen waren und dort kein Penicillin bekommen hatten, bei Flori wirkte es nicht mehr, und der Arzt hatte der Mutter geraten, ihm mit einer Gummipumpe erst einmal die Nase abzupumpen und dann Nasentropfen hineinzuträufeln, und Flori sagte, wenn sie mit der Pipette an den Augen vorbeikommt, kann ich nicht anders, ich muß einfach anfangen zu heulen, und dann ist sie schon gleich im Gehirn drin, und die Mutter sagte, vom Schnupfen ist es nicht weit bis zur Stirnhöhlenvereiterung.
    Am meisten aber tat mir leid, daß Flori vor dem Einschlafen niemanden zum Sprechen hatte, so wie Wasa und ich uns hatten. Aber weil er niemals jemand zum Einschlafen gehabt hatte, fehlte ihm nichts, und es machte ihm gar nichts aus. Wenn ich Wasa vor dem Einschlafen früher gefragt hatte, glaubst du, das muß so weh tun, hatte Wasa mich daran erinnert, daß es in Waisenhäusern noch ganz anders weh tun würde, und dadurch war es im Grunde ganz leicht gewesen; wir haben einfach über fast alles gesprochen, was uns durch den Kopf ging und was wir nicht verstanden, und es war eine ganze Menge davon in unseren Köpfen, und wenn wir eine Weile darüber gesprochen hatten, waren wir immer noch nicht sicher, ob wir es jetzt verstehen, aber wir waren froh, daß wir uns hatten.
    Es gab natürlich auch die Kinder in der Siedlung und später Freundinnen aus der Schule, aber es war nicht dasselbe, weil sie Westkinder waren, und wir waren Ostkinder und würden Ostkinder bleiben. Auch wenn wir uns noch so anstrengten, Westkinder zu werden, wurden wir keine, und wir wußten zwar nicht genau, was der Unterschied zwischen Osten und Westen war, aber er war gewaltig, weil sie dazwischen den Stacheldraht hatten und ihren Kalten Krieg mit hüben und drüben lauter Idioten. Auch zwischen der Ami-Siedlung und unserer war Stacheldraht, und von unserer Siedlung ging keiner in die Ami-Siedlung, weil wir mit den Ami-Kindern nicht spielen durften, und wahrscheinlich durften die Ami-Kinder mit uns auch nicht spielen, weil die Amis zwar solche Idioten gewesen waren, daß sie nach dem Krieg Kaugummis an Nazis und Nazikinder verteilt hatten, aber bestimmt waren sie doch nicht solche Idioten, daß sie ihre Kinder mit Nazikindern in einem kreuz und quer verminten Land spielen lassen wollten.
    Die Ami-Kinder waren aber immerhin viele und nicht so wenige wie wir drei Ostkinder, sie waren sogar ziemlich viele, eine ganze Siedlung voll, mit einer eigenen Schule, sie spielten mit Mannschaften auf riesigen Sportplätzen Ball, und sie hatten auch einen eigenen Ami-Sender, wenn sie den hörten, konnten sie vielleicht etwas über Amerika herausfinden, auch wenn sie nicht mehr wußten, wie es dort aussah, wir dagegen waren nur drei Ostkinder ohne eigenen Sportplatz, und wenn die Mutter in der Küche Ostsender hörte, gingen wir lieber hinaus, weil es uns bedrückte, wenn sie vom Ostsender Heimweh bekam. Sie hatte natürlich nicht nach dem Staat Heimweh, der diesen Sozialismus nicht zum Laufen bekommen hatte wegen der Idioten von Russen, die den einzigen Kommunisten gleich nach dem Krieg erschossen hatten. Die Mutter wollte möglichst überhaupt nichts mit egal welchem Staat zu schaffen haben, sie sagte, ich habe zwei Diktaturen hinter mir, ihr wißt ja nicht, wie das ist; und wir wußten es nicht; aber ihrer Kinder wegen war sie schließlich im Westen gelandet, wo es die freien Wahlen gab, damit die Kinder nicht unterdrückt wurden, und das war jetzt genug Staat, mehr Staat brauche ich nicht, sagte die Mutter; den Ostsender hörte sie aber doch aus Heimweh, nur war es ein Heimweh nicht nach dem Staat, auch nicht nach ihrer Mutter, sondern nach dem Land, und wir gingen lieber raus, weil wir uns an das Land nicht erinnern und nicht mit ihr Heimweh danach haben konnten, das wäre gelogen gewesen, aber eine Art Heimweh bekamen wir auch, wenn wir sahen, wie die Mutter Heimweh hatte, nur hätte es ihr ja nicht geholfen, wenn wir gesagt hätten, wir haben auch Heimweh, aber wir können uns nicht erinnern, wie es da aussieht, wonach wir Heimweh haben. Einmal sagte ich, aber Mama, jetzt komm doch, ich finde, hier ist es auch ganz schön, und ich dachte dabei nicht so sehr an den Bunker, sondern eher an die Teppichstangen hinterm Haus, an denen ich freihändig Knierädchen mit

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