Friesengold (German Edition)
Tatortbesichtigung in Erinnerung hatte. Einige der Uhren tickten noch, andere standen bereits. Ohne ihren Meister waren sie zum einstweiligen Tod verurteilt. Die herumliegenden Papiere fehlten natürlich, denn die lagerten in seinem Büro. Die Vitrinen waren geöffnet, die wenigen Exponate in Sicherheit gebracht worden. Auch Onkens Vorräte an Gold, Silber und Platin waren nicht mehr da. Die Goldschmiede war demnach kein lohnendes Ziel für Diebe mehr. Und trotzdem hatte jemand die Tür auf perfide Weise aufgebrochen und auch wieder verschlossen.
Die beiden Fenster reichten kaum aus, den Raum zu erhellen. Die Passage schluckte einfach zu viel Licht. Sobald sich eine Wolke vor die Sonne schob, dämmerte es sogar in dem kleinen Laden. Der Schalter an der Wand neben ihm hätte das Problem gelöst, ihn aber auch endgültig verraten. Er ging in die Knie, was ihm nicht leichtfiel, und sah sich die Goldschmiede aus der Froschperspektive an. Sein an sich noch gutes Gehör nützte ihm wenig, denn das Ticken der überlebenden Uhren überlagerte alle Geräusche. Wie hatte das Onken bloß den ganzen Tag ausgehalten?
Ein Schatten huschte lautlos durch den Raum. Er musste einem Passanten gehören, der draußen vorbeigegangen war. Vielleicht der Frau, die er vorhin gesehen hatte. Konzentriert versuchte er, am Ticken der Uhren vorbei in die Goldschmiede zu horchen. Sinnlos. Da war kein Durchkommen. Ein neuer Schatten flog vorbei. Greven zuckte zusammen, nur um sich anschließend darüber zu ärgern, denn wieder war nur ein Passant vorbeigelaufen.
Von rechts müsste er einen besseren Überblick haben und auch hinter die Vitrinen schauen können. Trotzdem zögerte er, denn sein Knie ging gerade in Flammen auf. Er musste so schnell wie möglich seine gebückte Körperhaltung ändern. Auf dem gesunden Bein balancierend, streckte er das andere Bein und verschaffte so seinem Knie Entlastung. Aus den Flammen wurde wieder ein erträgliches Glimmen. Ein paarmal holte er tief Luft, riss sich zusammen und riskierte vier oder fünf Kinderschritte, ohne seine Körperhaltung aufzugeben.
Nichts rührte sich. Seine Position sah nun viel besser aus. Er hatte die Uhren im Rücken, aber dank des Arbeitstisches eine sehr gute Deckung. Wieder streckte er ein Bein aus und begann, den Raum abzutasten. Die Vitrinen, den kleinen Tresen mit der Kasse, die Schränke. Die Goldschmiede blieb menschenleer. Jetzt rebellierte sein anderes Bein gegen die einseitige Behandlung. Zum Äquilibristen fehlte ihm jegliches Talent, er musste einfach aufstehen, was ihm beide Beine umgehend dankten.
Da ein weiterer Lauschangriff auch keine Resultate brachte und er sich an die fliegenden Schatten gewöhnt hatte, peilte er die erste der beiden Türen an. Leider war sie geschlossen, so dass er die Klinke herunterdrücken musste. Dem Kick mit dem Fuß folgte seine Waffe, doch die kleine Toilette war leer. Sofort schloss er die Tür wieder und huschte zur nächsten Tür.
Das Ticken der Uhren störte zwar seine Wahrnehmung, hatte aber den Vorteil, auch seine Geräusche zu übertönen. Kurz hielt er den Atem an. Nichts. Das Türblatt war nur angelehnt. Wieder setzte er seinen Fuß ein, um sie zu öffnen, den Finger am Abzug.
Da saß er.
»Hände hoch! Waffe fallen lassen! Polizei!«
Der Mann vor ihm rührte sich nicht. Er saß wie angewurzelt auf einem Stuhl, die Hände in seinem Schoß, die Handflächen nach oben.
Schnelle Blicke. Sonst war niemand in der Küche. Greven langte zum Lichtschalter neben der Tür.
Die Augen des Mannes, die die Decke anstarrten, waren ebenso weit geöffnet wie sein Mund. Der Mann war nicht sehr groß, etwa einssiebzig, aber kräftig gebaut, schlank, sportlich, etwa vierzig Jahre alt, kahl rasierter Schädel, Jeans, dunkelblauer Pullover, grauer Dreiviertelmantel, Lederhandschuhe, schwarze Stiefel. Mitten auf seiner Stirn befand sich das Einschussloch eines kleinen Kalibers, aus dem ein dünnes Blutrinnsal entlang der Nase bis zum Kinn gelaufen war. Die entsprechende Pistole lag vor seinen Füßen auf dem Boden. Ein ausländisches Fabrikat.
Der Mann war auf eine Weise offensichtlich tot, die Greven auf den obligaten Griff zur Halsschlagader verzichten ließ. Aus dem ausgesprochen guten Zustand der Leiche und der frisch wirkenden Wunde schloss er laienhaft, dass der tödliche Schuss erst kürzlich gefallen sein musste. Ein Kampf hatte aber nicht stattgefunden, denn auch die Küche war so, wie er sie zuletzt gesehen hatte. Die Fotos der Spusi
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