Frisch getraut: Roman (German Edition)
eine cremefarbene Hose, eine lavendelblaue Bluse und einen riesigen Strohhut. Joyce war schon immer extrem dürr gewesen. Die Art von Dürre, die davon herrührte, dass sie alles in ihrem Leben unter Kontrolle hatte. Ihre scharfen Gesichtszüge dominierten ihr großes Gesicht, und ihr breiter Mund war normalerweise missbilligend verkniffen. War er zumindest immer gewesen, wenn er in der Nähe war, und ihm drängte sich die Frage auf, ob es an ihrem säuerlichen Charakter oder ihrer herrschsüchtigen Art lag, dass Mr. Wingate immer schön an der Westküste geblieben war.
Wahrscheinlich an beidem.
Joyce war noch nie eine attraktive Frau gewesen, auch nicht, als sie jünger war. Doch wenn jemand eine Pistole an Sebastians Schläfe drücken und ihn zwingen würde, etwas Nettes über sie zu sagen, könnte er vorbringen, dass ihre Augen von einem interessanten Hellblau waren. Wie die Schwertlilien, die am Rand ihres Gartens wuchsen. Wie die Augen ihrer Tochter. Die harten Gesichtszüge der Mutter waren im Gesicht der Tochter weniger
ausgeprägt und viel weiblicher. Clares volle Lippen machten die Linien ihres Mundes weicher, und sie hatte eine zierlichere Nase geerbt, doch die Augen waren dieselben.
»Ihr Vater sagt, Sie wollen ihn bald schon wieder verlassen«, bemerkte sie. »Es ist schade, dass Sie sich nicht überreden lassen, noch länger zu bleiben.«
Sebastian schaute von der Rose in Joyces Korb auf in ihr Gesicht. In Augen, die in seiner Kindheit blaue Flammen auf ihn abgefeuert hatten. Eine riesige Hummel schaukelte auf einer leichten Brise vorbei, und Joyce wedelte sie fort. Das Einzige, was er heute in ihren Augen sah, war höfliches Interesse.
»Ich versuche, ihn dazu zu überreden, wenigstens noch die nächste Woche zu bleiben«, erklärte sein Vater, zog ein Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. Leo Vaughan war ein paar Zentimeter kleiner als Sebastian, und sein einst braunes Haar verfärbte sich zu einem zweifarbigen Grau. Um seine Augenwinkel hatten sich tiefe Falten eingegraben. Seine Augenbrauen waren in den letzten Jahren buschig geworden, und seine »Zwanzig-Minuten-Nickerchen« dauerten jetzt eher eine Stunde. Ende der Woche wurde Leo fünfundsechzig, und Sebastian fiel auf, dass sich sein Vater im Garten der Wingates nicht mehr so mühelos bewegte wie in seiner Erinnerung. Nicht, dass er viele Erinnerungen an seinen Vater gehabt hätte. Ein paar Monate hier und ein Wochenende da legten nicht gerade den Grundstein für zahlreiche Kindheitserinnerungen, doch eines, woran er sich ganz klar erinnerte, waren die Hände seines Vaters. Sie waren groß und stark genug gewesen, um kleine Äste und Bretter durchzubrechen, und sanft genug, um seinem Jungen die Schulter zu tätscheln und über den Rücken zu streicheln. Trocken und
rau, die Hände eines fleißigen Mannes. Doch jetzt waren sie vom Alter und der harten Arbeit fleckig, und die Haut über seinen verdickten Fingerknöcheln war schlaff.
»Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich noch bleibe«, sagte er, unfähig, sich auf irgendetwas festzulegen. Stattdessen wechselte er das Thema. »Gestern Abend bin ich Clare über den Weg gelaufen.«
Joyce bückte sich, um noch eine Rose abzuschneiden. »Ach ja?«
»Wo denn?«, erkundigte sich sein Vater, während er das Taschentuch wieder einsteckte.
»Ich hab mich mit einem alten Studienfreund in der Bar im Double Tree getroffen. Er war dort, um über eine Spendenaktion für Kinderdörfer zu berichten, und Clare sagte, sie wäre auf einem Hochzeitsempfang gewesen.«
»Ja, ihre Freundin Lucy hat gestern geheiratet.« Joyce nickte, und ihr großer Hut senkte sich. »Es dauert nicht mehr lange, bis auch Clare ihren jungen Mann heiratet. Lonny. Sie sind sehr glücklich zusammen. Sie planen, die Hochzeit nächsten Juni hier im Garten abzuhalten. Die Blumen werden in voller Blüte stehen, und es wird zu dieser Jahreszeit einfach herrlich sein.«
»Ja, ich glaube, sie hat Lonny erwähnt.« Offensichtlich war Joyce nicht ganz auf dem neuesten Stand. Es folgte ein betretenes Schweigen, aber vielleicht empfand auch nur er es so, weil er wusste, dass es keine Hochzeit im Juni geben würde. »Ich hatte keine Gelegenheit, Clare zu fragen, was sie beruflich macht«, sagte er, um das Schweigen zu überbrücken.
Joyce wandte sich ihren Rosen zu. »Sie schreibt Romane, aber anders als Ihr Buch.«
Er wusste nicht, was ihn mehr schockierte: dass Mrs. Wingate so gut über ihn
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