Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

sitzen?
    »Hallo«, sagte der Mörder oder die Mörderin, »ich komme jetzt mal um den Sessel rum, stelle mich vor Sie und erschieße Sie. Schön ruhig bleiben, sonst knallts. Machen Sie also keine Schwierigkeiten.« Wie kam der Täter überhaupt zur Türe rein, der so sprach und ohne Umschweife losballerte? Hatte der Killer ihm aufgemacht:
    »Hallo, nett, dass Sie da sind«, und ging dann vor bis zum Sessel? Ich ging zurück zur Eingangstür. Vielleicht fand ich da einen Hinweis. Ich guckte in alle Ecken, aber ich fand nichts. Ich zog die Vorhänge auf. Ich ging wieder zur Tür und schaute mich nochmals um. Ich konnte mir alles Mögliche vorstellen. Jemand klopfte, er öffnete, der Schuss fiel, der Täter schleifte ihn in den Sessel und verschwand. Oder Nardini kannte seinen Mörder, wartete auf ihn, machte ihm auf, sie gingen zum Sessel, und dann passierte es. Aber wieso sollte Nardini mit seinem Besucher zurück zum Fernseher gehen und nur sich ein volles Glas Whisky einschenken, um sich dann vor den Fernseher zu setzen? Warum gingen sie nicht zu der kleinen Bar? Oder zu der Sitzecke? Dann sah ich es. Es war ein Lichteffekt, den man nur in einem bestimmten Winkel sehen konnte. Es waren zwei schmale Schleifspuren in dem weichen Teppichboden, die nur bei einem bestimmten Lichteinfall für den Betrachter schwach glänzten. Die gebogenen Fasern der Schleifspur reflektierten das einfallende Licht anders als die ungebogenen. Die Schleifspuren führten von der Türe direkt zum Sessel. Der Täter hatte den Toten dahin geschleift, den Fernseher angestellt oder ihn laufenlassen und dem Toten noch einen ordentlichen Schluck Whisky eingeschenkt. Der Tote sollte an der Eingangstür nicht sofort entdeckt werden. Manchmal füllte jemand die Minibar auf oder eine Zimmerfrau hatte vergessen, etwas zu überprüfen.
    »Oh, pardon«, würde der Service sagen und sich zurückziehen bei dem laufenden Fernseher und beim Anblick der Glatze, die über dem Rand des Sessels wie ein Halbmond schwebte.
    »Oh, verzeihen Sie die Störung.« Der Service in einem Hotel von der Klasse des ›Esplanade‹ war sehr diskret. Auch Tote störte man nicht. Ich ging zurück zu dem Toten. Wer ihn zum Sessel geschleift hatte, hatte mit ihm engen Körperkontakt. Ich fand, was ich suchte: ein langes, rotes Haar, das die linke Schulter drapierte. Das genügte mir. Ich putzte sorgfältig alles ab und verließ die Suite. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl bis in die Tiefgarage. Ich wollte das ›Esplanade‹ nicht durch die Lounge verlassen. Ein kühler Sancerre in Harrys Bar wäre zum sich Wegträumen nicht schlecht gewesen.
    Es war jetzt früher Nachmittag. Ich gönnte mir ein Taxi und fuhr schnurstracks nach Hause. Dort stopfte ich 20.000 Euro in einen Umschlag und klebte ihn zu. Den Rest des Geldes tat ich in die Hosentasche. Ich liebte es, große Geldbündel in der Tasche zu haben. Es gab mir ein Gefühl von Freiheit. Dann schrieb ich einen kurzen Bericht. Dass der gelbe Koffer mir von der Rothaarigen gegeben worden sei und er dem Killer Nardini gehöre, der im ›Esplanade‹ erschossen wurde. Diesen Bericht legte ich in den Koffer. Dann ging ich mit dem Geldumschlag und dem Koffer des toten Nardini ins ›Dollinger‹ zu Jean, der an seinem üblichen Platz am Tresen neben der Kasse stand. Er trank kühlen Grauburgunder. Ich bestellte mir auch ein Glas.
    »Pass mal auf«, sagte ich. »Das Leben meint es mal wieder gut mit mir. Steck doch den Umschlag in deinen Safe und den Koffer stellst du beiseite. Wenn was ist, gibst du ihn der Polizei. Den Umschlag aber behältst du.« Jean fragte nicht viel, nahm den Umschlag und den Koffer und verschwand im Keller, wo sein Safe stand. Aus diesem Keller wurde der Safe schon zwei Mal gestohlen. Durchs Kellerfenster. Das ist jetzt zugemauert. Auf der Speisenkarte stand ein Safranfischtopf. Ich bestellte ihn und noch einen Grauburgunder. Es war nicht der letzte an diesem Abend.

5
    Auf einem Stuhl sitzt man, auf einem Bett liegt man, auf einen Tisch stellt man das Essen, und in einen Schrank hängt oder stapelt man. Das ist das Prinzip Stuhl Bett Tisch Schrank weltweit. Seit Jahrtausenden. Unverrückbar. Dschingis Khan hat genauso gelegen und gesessen wie Napoleon, und Goethe stemmte die Ellenbogen auf den Tisch wie Schiller, um sich die Suppe reinzulöffeln. Niemand würde dieses Prinzip in Frage stellen. Ich stellte es in Frage. Prinzipien machen das Herz hart und die Fantasie dürr. Im Schrank meiner Kindheit berauschte ich