Fröhliche Wiederkehr
Lokalen schenkten die Wirte das Bier und den Schnaps unentgeltlich aus, und auch die Damen des horizontalen Gewerbes sollen ihre Gunstbeweise umsonst erteilt haben. Ob das der Wahrheit entsprach, und ob sich der arme Teufel sein Leiden bei dieser Centenarfeier geholt hat, will ich dahingestellt sein lassen; es gehörte wohl mehr zur Familienlegende.
Tante Grete jedenfalls trat ein Jahr vor Mutters Hochzeit in den Ehestand. Großvater führte seine Tochter, und Mutter den Bräutigam in die Kirche. Beim Durchschreiten eines dunklen Sakristeiganges spürte die Mutter plötzlich, daß der Bräutigam weiche Knie bekam und sich an ihren Arm klammerte. Sie fuhr in böse an, ob er sich nicht schäme, betrunken vor den Traualtar zu treten, aber er versicherte ihr hoch und heilig, daß nicht ein einziger Tropfen Alkohol über seine Lippen gekommen sei, und er wisse selber nicht, weshalb ihm in letzter Zeit, vor allem in der Dunkelheit, die Beine zuweilen den Dienst versagten. Wenige Jahre später verschlimmerten sich die Lähmungserscheinungen, er schleppte sich von Arzt zu Arzt und wurde den grausamsten Marterkuren unterzogen, aber die Tabes schritt unaufhaltsam voran und lähmte bald nicht nur seine Beine gänzlich, auch Arme und Hände gehorchten ihm nur noch unter großen Anstrengungen. Was der Staat ihm mit seinen zehn oder zwölf Dienstjahren schließlich auf dem Gnadenwege an Pension gewährte, war ein Bruchteil von dem, was die Familie zum Leben benötigte. Nach vielen Gesuchen, zumeist von Vater geschrieben und weitergeleitet, wurde Tante Grete mit der Führung einer Postagentur auf einem Dorf in der Nähe von Stallupönen betraut. Mit seiner winzigen Rente und ihren geringen Einkünften lebten sie dort seit Jahren in den bescheidensten Verhältnissen. Mutter kam jedesmal, wenn sie Tante Grete besuchte, ganz krank von dem Elend, das sie dort erlebt hatte, nach Hause zurück. Und auch voller Bewunderung für ihre Schwester, die nie ihre gute Laune verlor, sich durch nichts unterkriegen ließ und von der Hoffnung lebte, daß ihr Karl eines Tages gesund würde und daß es dann mit ihnen wieder aufwärtsgehen werde. Es ging nie aufwärts. Der gelähmte Mann wurde mehr als siebzig Jahre alt. Er überstand die Flucht vor den Russen im Ersten Weltkrieg und öffnete sich am Ende des Zweiten Weltkrieges, während Tante Grete im Dorf die zweite Flucht vor den eindringenden Russen zu organisieren versuchte, in ihrer Abwesenheit die Pulsadern. Ihr blieb nicht mehr die Zeit, ihn unter die Erde zu bringen.
In jenen Tagen, von denen ich hier erzähle, scheint die Kunde von einer neuen Wunderkur, mit der ein Neurologe an der Universitätsklinik Lahme gehend machte, bis nach Stallupönen gedrungen zu sein. Tante Grete schöpfte wieder einmal neue Hoffnung, steckte den ansehnlichen Geldbetrag, den ihr Onkel Walter zugesteckt hatte, in ihre Handtasche, nahm ihre drei Kinder, setzte Onkel Karl in seinen Rollstuhl, schob ihn zur Bahn, fand hilfsbereite Leute, die ihn in ein Abteil vierter Klasse (Für Reisende mit Traglasten) hoben, und lieferte ihn in der neurologischen Abteilung in Königsberg ab. Bei uns wurde im Salon die rote Plüschgarnitur beiseite gerückt, Anna holte ein ausrangiertes Bettgestell vom Speicher, für Tante Grete wurden Betten bezogen, und die Kinder bekamen ein Matratzenlager auf dem Fußboden. Ich schloß mit dem neuen Cousin Hans und mit der Cousine Trudchen rasch Freundschaft. Wir waren etwa gleichaltrig. Das jüngste der Kinder, ein Junge, war vier Jahre alt, hieß Walter und fraß Portionen, die sogar meinem Vater Respekt abnötigten. Gleich bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit hatten wir Gelegenheit, seinen enormen Appetit zu bewundern. Dabei kratzte er sich, während er die dicke Gemüsesuppe mit der rechten Hand in sich hineinschaufelte, mit der linken unaufhörlich den Kopf.
»Was hat der Junge eigentlich?« fragte Mutter.
»Der hat dauernd so dumme Angewohnheiten, mal dies, mal das,« sagte Tante Grete und ließ sich Mutters Gemüsesuppe mit dem fetten Hammelfleisch ebenfalls gut schmecken. Aber Mutter gab sich mit der Antwort nicht zufrieden, sie stand auf, unterzog den Kopf des Knaben Walter einer genauen Untersuchung und schrie entsetzt: »Grete! Bei dem Jungen wimmelt es ja vor Läusen!«
»Was verlangst du von der vierten Klasse Besseres?« fragte Tante Grete achselzuckend und wenig berührt, »mit was für einem Gesocks man da zusammensitzt! Er wird sich die Läuse ganz bestimmt in der Bahn
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