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Fröhliche Wiederkehr

Fröhliche Wiederkehr

Titel: Fröhliche Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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Fünfzigpfennigstück heimlich kassiert hatte, war Vater auch nicht verborgen geblieben, denn Walterchen hatte mich verraten. Die Blicke, mit denen er mich betrachtete, wurden immer düsterer, und auch den Spruch von dem Krug, der solange zum Brunnen geht, bis er bricht, bekam ich immer öfter zu hören. Er brach dann wie gewöhnlich bei einem Anlaß, der mich an der väterlichen Gerechtigkeit zweifeln ließ. In jedem unserer Schulhefte trugen die Vorsatzblätter in einer ovalen Umrahmung Brustbilder unseres Kaiserpaares, Wilhelm rechts, Auguste Viktoria links, beide en face und doch einander hold zulächelnd, genau wie die Fotos von Vater und Mutter auf der ersten Seite des silberbeschlagenen Familienalbums. Ob es ein alter Trick oder der Genieblitz im Hirn eines meiner Klassenkameraden war: wenn man dem Kaiser und seiner erlauchten Gemahlin mit Mutters Stickschere die Augen fein säuberlich ausschnitt, ein weißes Blatt hinter die Vorsatzseite legte und in die leeren Augenhöhlen blaue oder schwarze Punkte malte, dann konnte man Wilhelm II. und Auguste Victoria je nach Lust und Laune schielen oder die Augen rollen lassen. Und wenn man den beiden dazu noch die Lippen vorsichtig aufschlitzte, die Zahnreihen säuberlich entfernte und auf dem hinteren Blatt zwei kleine Schnitzel aus rotem Papier anklebte, dann konnten Kaiser und Kaiserin bei einiger Fingerfertigkeit sogar die Zungen herausstrecken und wieder einziehen. Und dieses mit größeren technischen Schwierigkeiten verbundene Zungenkunststück war meine ureigene Erfindung, die mich für Tage zum unbestrittenen Helden und Führer in der Klasse machte. Keine innere Stimme raunte mir zu, die Spielereien mit Kaiser und Kaiserin nur heimlich zu treiben, aber ich konnte ja auch nicht ahnen, mit welcher Liebe und Verehrung Vater am Hause Hohenzollern hing. Als ich ins Zimmer stürzte, um ihm meine geniale Erfindung glühend vor Eifer vorzuführen, wurde er blaß und starrte sekundenlang stumm auf mein Kunstwerk. Ich hielt es so lange für die tiefe Ergriffenheit eines Vaters, der dem Sohn das größere Talent nicht neidet, bis ich plötzlich auf seinem Knie lag und meinen Hintern unter der fürchterlichsten Abreibung brennen spürte, die er mir je verabfolgt hatte. Mutter wollte dazwischen gehen, aber er scheuchte sie zurück: »Das ist nicht einfache Majestätsbeleidigung,« brüllte er, »das ist Schändung der Majestäten, brutale und gemeine Schändung!!« Und während ich heulend ins Bett schlich, untersuchte er meinen Schulranzen, riß aus sämtlichen Heften die geschändeten Majestäten heraus und warf die Blätter auf die Glut des Kachelofens. Der einzige, der sich für meine ersten künstlerischen Versuche interessierte, war mein Bruder Ernst. Der Trick, den Bildern des Kaiserpaares durch künstliche Augäpfel mehr Leben zu verleihen, schien ihm nicht neu zu sein, aber wie man die hohen Herrschaften auch noch dazu bringen konnte, dem Betrachter die Zunge zu zeigen, das ließ er sich genau erklären.
    Bei Vater hatte ich das Kraut für lange Zeit ausgeschüttet. Er betrachtete mich, wenn er mich überhaupt eines Blickes würdigte, als frage er sich, was er da für ein Monstrum in die Welt gesetzt habe. Meine Schwestern nutzten den Umstand, daß ich in Ungnade gefallen war, in der gemeinsten Weise aus, indem sie mir unter Drohungen und Zwang gute Tischmanieren beizubringen versuchten. Wenn ich beim Essen schmatzte oder die Suppe schlürfte, machten sie gequälte Gesichter und behaupteten dreist, wenn sie mich essen hörten, dann würde ihnen schlecht und es vergehe ihnen aller Appetit. Und um mir >das Essen mit den Ellenbogen< abzugewöhnen, steckten sie mir wahrhaftig die kleinen Teller von Mutters Frühstücksgeschirr unter die Achseln und zwangen mich so, aufrecht wie ein Stock zu sitzen und die Oberarme an die Rippen zu pressen, wenn ich Messer und Gabel benutzte. Es war eine richtige Tortur. Alles in allem, so gut das Jahr auch begonnen hatte, so schlecht endete es für mich. Zudem bekam ich kurz vor Weihnachten noch die Masern, mein Bett wurde in das fensterlose Dunkelkabinett gestellt, in dem die Eltern schliefen, und da man allgemein glaubte, ein Blick in helles Licht führe bei Masern sofort zu totaler Erblindung, durfte ich am Fleiligen Abend den Tannenbaum mit seinem Kerzenschmuck nur für einen flüchtigen Augenblick sehen. Als Geschenke bekam ich einen Druckkasten mit Gummilettern und eine Schachtel, auf der »DER KLEINE GIPSFORMER« zu lesen stand.

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