Fröhliche Zeiten
bei Behörden — überall hatte man seine Bezugsperson, der man vertraute, auf deren Wissen man vertrauen konnte. Sie war immer da, immer erreichbar, oft über Jahrzehnte. Wurde sie versetzt, stieg auf oder wechselte in den Ruhestand, verständigte sie einen rechtzeitig, machte den Kunden mit dem Nachfolger bekannt, beziehungsweise mit der Vertretung, ehe sie in Urlaub fuhr. Damals eine Selbstverständlichkeit im Umgang, die es noch geben mag. Die Regel ist sie nicht mehr.
Heute betraut man eine Firma, eine Anwalts- oder Steuerkanzlei mit einer schwierigen Aufgabe. Anfangs klappt alles. Man bekommt einen Sachkundigen, weiht ihn ein, bespricht mit ihm, wie vorgegangen werden soll. Über Nacht kommen Bedenken auf oder eine bessere Idee, die umgehend beredet werden muß. Man ruft an und erfährt, der Zuständige sei für drei Wochen in Urlaub gefahren. Man möge dann wieder anrufen.
Einen Vertreter hat er nicht eingeweiht. Sollte es ausnahmsweise einen Ersatzmann geben, kann man wieder von vorne anfangen. Sofern er die Unterlagen findet, die man dem Urlauber überließ und überhaupt Zeit hat. Da ist ein freier Nachmittag, ein Betriebsausflug, ein unaufschiebbarer persönlicher Termin. Überall stößt man an die Grenzen fremden Privatlebens.
»Sie müssen Verständnis haben«, wird man belehrt. Man braucht mehr: Geduld und Selbstbeherrschung. Höflichkeiten im Geschäftsverkehr sind Klischees aus der Tiefkühltruhe. Die Formel: »Was kann ich für Sie tun ?« — nach Hilfsbereitschaft klingt sie nicht. Vielleicht weil der Frager einem gar nicht helfen könnte. Um einem Kundenwunsch zu entsprechen, müßte er sich auskennen in seinem Laden. Manchmal ist er ehrlich:
»Tut mir leid. Ich bin erst drei Tage hier .«
Dafür muß man Verständnis haben. Auch für die Schwindelei, es täte ihm leid. Verständnis gilt als sozial. Man hat es zu haben. Schon am Telefon, wenn bei einer Firma nach dem dritten Anruf endlich jemand den Hörer abnimmt und einen ins Nichts verbindet, ohne nachzuprüfen, ob das Gespräch zustande gekommen ist. Man läßt den andern spüren, wie überlastet man sich fühlt. Die Fernsprechauskunft löst das eleganter: sie ist permanent belegt.
»Wir loben die alten Zeiten, müssen aber in den jetzigen leben«, sagte Georg Christoph Lichtenberg schon vor zweihundert Jahren. Halten wir uns an ihn, wenn wir uns umsehen, voller Verständnis dafür, daß sozialer Fortschritt und humaner Rückschritt einander offenbar bedingen.
Am Bahnhof gab’s noch Dienstmänner, oft köstliche Typen, die dem Fremden mit ihrem Dialekt einen ersten Eindruck von der lokalen Atmosphäre vermittelten. Wer nicht abgeholt wurde, hatte im Dienstmann eine erste Bezugsperson für kleine Auskünfte. Wer Verständnis findet, muß keines mitbringen.
Abends stellte der Hotelgast seine Schuhe vor die Tür. Sie wurden selbstverständlich nicht gestohlen — nur geputzt.
In Privathäusern hing morgens das Säckchen mit den frischen Semmeln an der Türklinke, neben dem Fußabstreifer stand die Milch. Zweimal am Tag wurde Post zugestellt. Bekam man ein Paket und war bei Lieferung nicht zu Hause, konnte man’s auf dem nächstgelegenen Postamt abholen , ohne zu einer Zentralstelle kilometerweit durch die Stadt fahren zu müssen. Schalter waren noch nicht wegen hoher Personalkosten unterbesetzt; die Beamten kannten sich aus und mußten nicht bei jeder Kleinigkeit nachschlagen, was da zu tun sei.
Geschäfte hatten bis sieben Uhr abends geöffnet. Auch Mittwoch und Samstag. Mit dem Auto fuhr man vor, wo man hinwollte und hätte kein Verständnis dafür gehabt, um zwei Ecken herum eine Parklücke suchen zu müssen.
In Feinschmeckerlokalen verkehrten nicht Hinz und Kunz in ästhetisch beleidigendem Aufzug und einer Duftwolke von Ungewaschenheit. Es gab so etwas wie atmosphärische Sperren. Hier fühlten sich die Hinze, dort die Kunze unter ihresgleichen.
Der Begriff Rücksicht wurde wesentlich größer geschrieben. Geschäftliche Anrufe zwischen zwölf und zwei Uhr fielen ebenso unter »ruhestörende Ausnahmen« wie Rasenmäher oder lärmendes Heimwerken am Samstagnachmittag. Sonntags störte allein übertriebenes Kirchengeläut.
Bitten um Entschuldigung konnte man jeden Tag mehrmals vernehmen. Selbst Gerügte reagierten umgehend. Wenn ein zerstreuter Kunde ein Lebensmittelgeschäft mit brennender Zigarre betreten wollte, genügten Blicke.
Junge Menschen hielten alten deutlich öfter Türen auf, nahmen ihnen Lasten ab, boten ihren
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