Frösche, die quaken, töten nicht: Roman (German Edition)
Fall.«
Dag fuhr
fort: »Es gibt Menschen, die eine krankhafte Neigung haben, die Wahrheit zu verfälschen.
Es ist nicht wie bei Kindern, die noch nicht sicher zwischen Wirklichkeit und Fantasie
unterscheiden können. Nein, bei dem Krankheitsbild von Erwachsenen ist es anders.
Sie tun das aus extremem Geltungsbedürfnis oder um bestimmte böse Absichten zu vertuschen.«
»Wie bei
Kindern«, musste Liv einwerfen.
»Es ist
anders«, insistierte Dag.
»Glauben
diese Menschen denn selbst, was sie erzählen?«, fragte Liv.
»Zumindest
teilweise sind sie von der Realität der erzählten Begebenheit überzeugt, meist werden
die Realitäten mit Wunscherfüllungen ausgeschmückt, eben wie bei einem Mythos. So
wird die unangenehme Realität geleugnet. Es ist ein Abwehrmechanismus, wobei die
Geschichten den Teil der Realität, der geleugnet werden soll, mit enthalten.«
»Also sagen
sie letztlich die Wahrheit?«
»Liv! Über
die Wahrheit lässt sich stundenlang philosophieren. Das können wir gern einmal bei
unserem nächsten Sonntagsbrunch im Les Halles auf die Tagesordnung setzen. Nein,
Liv, im Ernst, man muss psychologisch vorgebildet sein, um die Wahrheit herauszufinden.
Das ist sehr vielschichtig. Schick’ diese Person lieber zum Psychologen.«
»Sind solche
Menschen fähig zu morden?«
»Liv, nun
geht aber der Detektiv mit dir durch. Was verlangst du von mir?«
»Nichts,
nur etwas Theorie.«
»Das Morden
gehört sicher nicht zum normalen Krankheitsbild. Aber wie das in Extremfällen ist,
weiß ich nicht, es könnte sein.«
»Danke fürs
Erste. Du bist gut, Dag. Du solltest wieder eine Praxis eröffnen.«
»Jetzt sind
mir meine Kinder wichtiger, das weißt du. Vielleicht, wenn sie größer sind … Du
hast recht, es ist ein faszinierendes Feld. Ich werde mich gleich noch einmal ins
Thema hineinlesen. Bis später mal.«
Zurück im
Hotel, schlug Liv den bekannten Weg zur Bar ein. Dort bestellte sie sich einen Gin
Tonic mit frischem Limonensaft bei Mike Tom, dem schwarzen Kellner. »Bieten Sie
hier in der Bar auch dieses Drei-Scheiben-Tiramisu an?«, fragte Liv. Mike Tom verneinte.
»Hier in der Bar haben wir nur kleine Snacks. Wie wäre es mit einer Spreewaldgurke,
einzeln verpackt in einer Dose, und einer Salzbrezel?« Dieser geschmackliche Sprung
von Tiramisu zur Gurke war sogar für Liv zu groß. Sie lehnte ab, aber sein freundliches
Lachen tat ihr gut. Gern hätte sie sich mit ihm unterhalten, hätte gern gewusst,
wo er herkam, wie er lebte, ob er Familie und Kinder hatte. Und ob er auch einen
Frosch zu Hause hatte? Und da waren sie wieder, die Gedanken an den Fall. Der Fall
ließ sie nicht los. Klar, denn zeitlich wurde es eng. Noch zwei Tage, dann war ihr
Aufenthalt zu Ende und die Wochenendausgabe kam raus. Unbändig stark war ihr Ehrgeiz,
in dieser Zeit den Fall aufzuklären.
Jemand klopfte
ihr auf die Schulter.
»Das ist
aber schön, dass ich Sie auch mal alleine erwische. Sie sind doch alleine hier?
Das sieht zumindest so aus«, sagte Monika Salmann und setzte sich neben Liv auf
den Barhocker. Dabei gab der ohnehin sehr hoch geschlitzte Rock reizvoll viel von
dem wohlgeformten Oberschenkel preis.
»Hallo,
Frau Salmann!« Livs Freude war nicht gespielt.
»Ach, nennen
Sie mich doch Moni«, sagte sie lächelnd und hielt ihr ein Glas entgegen. Liv stieß
ihr Gin Tonic-Glas spontan dagegen.
»Liv«, sagte
sie nur kurz.
›Das hätte
nun nicht sein müssen.‹
Das vertraute
›Du‹ schien Liv etwas zu vorschnell. Aber beide hatten Interesse, in der Geschichte
voranzukommen. Da dieses ›Du‹ nicht Livs inneres Bedürfnis widerspiegelte, war ihr
klar, dass sie von nun an ständig in die Sie-Falle tappen würde.
Monika Salmann
plapperte gelöst auf Liv ein, wandte sich bei ihren Sätzen immer wieder um, so dass
sie ihr Umfeld im Blick hatte. Ihr bis in die durch einen engen Gürtel gequetschte
Taille reichender Pferdeschwanz wirbelte bei jeder schnellen Bewegung herum und
berührte wie ein ausgestreckter Fühler die an ihr vorbeigehenden oder in der Nähe
stehenden Gäste, die vorwiegend männlicher Natur waren. Auf diese Weise schätzte
sie ein, wer was hören könnte. Sie sprach von Liebe, von einer Familie, von ihren
furchtbaren Erlebnissen als Kind und Jugendliche und davon, dass sie in ihrem Zukünftigen
wohl auch ein wenig den Vater gesehen hatte, den sie immer vermisst hatte. Ihr Vater
habe sie sexuell misshandelt, ihre Mutter geschlagen und sei immer betrunken gewesen.
Sie erzählte diese
Weitere Kostenlose Bücher