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Frösche: Roman (German Edition)

Frösche: Roman (German Edition)

Titel: Frösche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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über alles waren? Der Grund war, dass der Steuereintreiber des Kommunesteueramts zwar regelmäßig vorbeikam, ihnen aber nur selten ein paar Fische abnahm. Doch es gab Aushilfskräfte in der Kommune, die sich als Steuereinnehmer ausgaben und versuchten, sich an den Fischhändlern zu bereichern. Den fünfzig Kilo schweren Riesenfisch hätten zwei solche Brüder in blauen Uniformen, die Fluppen in den Mundwinkeln, die schwarzen Aktenmappen unterm Arm, dem Alten auch um ein Haar abgenommen. Wäre die Tochter des Fischverkäufers nicht plötzlich herbeigestürzt und hätte laut weinend Krach geschlagen! Hätte Qin Strom die beiden nicht als Betrüger entlarvt! Kein Zweifel, der Fisch wäre weggetragen worden!
    Qin Strom war der mit der Mittelscheitelfrisur in der blauen Schüleruniform aus Gabardine, mit dem Füller Marke HERO DOCTOR und dem Zweifarbenkuli Marke NEUES CHINA in der Brusttasche. Er sah haargenau aus wie ein Bettelstudent aus der Zeit der Vierten-Mai-Bewegung. Ein fahler Teint, ein kummervolles Gesicht mit wässrigen Augen, als wenn er jeden Moment in Tränen ausbräche. Dabei war er ein herausragender Redner, sprach problemlos chinesische Hochsprache, jeder seiner Sätze perfekt, als entstammte er dem Bühnentext eines Schauspiels – dass ich mich letztlich für das Schreiben eines Theaterstücks entschieden habe, ist unter seinem Einfluss geschehen. Er lief immer mit einer Henkeltasse aus Emaille herum, bedruckt mit einem roten fünfzackigen Stern und dem Schriftzeichen 奖 für »Auszeichnung«. Liebenswürdig sprach er an den Ständen die Fischverkäufer an:
    »Genossen! Ich habe meine Arbeitsfähigkeit eingebüßt! Vielleicht denkt ihr, ach was, dieser junge Spund ist doch nicht arbeitsunfähig! Aber Genossen, ich sage euch, ihr seht nur mein Äußeres, dabei bin ich schwer herzkrank. Man hat mir mit einem Dolch ins Herz gestochen. Bei der geringsten Anstrengung platzen die Narben wieder auf. Und wenn das passiert, blute ich aus allen sieben Körperöffnungen, so lange, bis ich verblutet bin. Genosse, bitteschön, schenk mir einen Fisch. Keinen großen! So unbescheiden will ich nicht sein: einen kleinen, deinen allerkleinsten!«
    Er schaffte es immer, sich Fisch oder Garnelen zu erbetteln. Mit der Beute verschwand er ans Wasser, machte sie mit einem kleinen Messer kochfertig, suchte einen windgeschützten Ort, wo er zusammengesuchtes Holz aufschichtete, zwei Backsteine darüberlegte, um sodann seinen Henkeltopf mit dem Fisch darauf zu stellen und das Feuer zu entfachen. Oft stand ich hinter ihm, wenn er Fisch kochte. Es duftete so köstlich aus seiner Henkeltasse, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief und ich ihn in den Tiefen meines Herzens um sein Leben beneidete.
    Er war der leibliche kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs Qin Shan. Früher war er mal der begabteste, aber eigenwilligste Schüler der ersten Kreismittelschule gewesen. Dass der kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs am Fluss bei den Marktschreiern bettelte, musste wohl einen schwerwiegenden Grund haben! Man munkelte, er wäre schon immer hoffnungslos in meine Tante verliebt gewesen. Und dass man ihn so gereizt habe, dass er sich die Pistole seines Bruders gegriffen habe, ihm der Selbstmord aber missglückt sei. Und dass er nach dem Verheilen seiner Verletzungen wie verwandelt gewesen sei.
    Zuerst verlachten ihn die Fischverkäufer, aber nachdem er den Riesenfisch des alten Han gerettet hatte, sahen sie ihn mit anderen Augen. Ich fühlte mich magisch von ihm angezogen. Ich wollte so gern wissen, was in ihm vorging. Ich fühlte auch Mitleid, wenn ich in seine tränenfeuchten Augen blickte.
    Eines Abends folgte ich ihm, als er, nachdem die Marktleute mit ihren Ständen abgezogen waren, mit seinem langen Schatten im Schlepptau der untergehenden Sonne entgegenging. Ich tat es heimlich, weil ich sein Geheimnis erfahren wollte. Ich wollte auf keinen Fall von ihm entdeckt werden. Aber er spürte, dass ich ihm folgte, hielt inne, wandte sich nach mir um und verbeugte sich ehrerbietig.
    »Verehrter Freund, ich bitte Sie doch, das zu unterlassen!«
    Ich machte ihn nach und sagte im selben gekünstelten Tonfall: »Verehrter Freund! Ich habe nichts getan.«
    Bemitleidenswert, jämmerlich war er, als er mir antwortete: »Ich möchte sagen, bitte folgen Sie mir nicht!«
    Ich wieder: »Du gehst hier, und ich gehe hier auch. Ich folge dir nicht.«
    Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Bitte hab doch Mitleid mit einem

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