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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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trug ihr mit silbernen Strähnen durchsetztes braunes Haar in einem Knoten und einzelne Strähnchen hingen ihr ins Gesicht. Im Lichtschein des Saales wirkte sie jünger. Sie hatte sich so wegen dieses Abends bemüht. Als er ihr eröffnet hatte, daß er in verblichenen Bluejeans und einem karierten Arbeitshemd gehen wolle, hatte sie selbst seinen Frack bestellt. Vielleicht werden wir nie wieder zum Präsidenten eingeladen, Thomas, sagte sie. Spielen wir doch einfach andere Rollen als gewöhnlich. Statt des zurückgezogenen Schriftstellers mit seiner Frau werden wir den Adel herauskehren. Machen wir uns einen schönen Abend, auf den wir stolz sein können. Ihr Chiffonkleid hatte 500 Dollar gekostet und sie hatte niemals schöner ausgesehen.
    »Ich habe gedacht«, sagte die First Lady, »daß wir Ihre Geschichte vielleicht vor dem Dessert einschieben. Dann hätten wir Gelegenheit, vor dem besten Gang noch ein wenig zu verdauen.«
    Thomas lächelte, und das Essen wurde mit einem neuen Gang und zwei weiteren langatmigen Anekdoten fortgeführt, deren erste die First Lady selbst erzählte. Als die Kellner mit den silbernen Kaffeekannen erschienen und das aromatische Getränk in fingernageldünne Tassen gossen, sang der Chor ein letztes Weihnachtslied. Dann trippelte er im Gänsemarsch aus dem Saal, seine fünfzehn großen Minuten waren absolviert.
    Ein Kellner stellte einen Hocker auf den riesigen blauen Teppich in die Nähe des Weihnachtsbaumes. Die First Lady klopfte mit ihrem Löffel gegen ihr Wasserglas, und es wurde still. »Herr Thomas Cavendish hat sich freundlicherweise bereiterklärt, eine Weihnachtsgeschichte zu erzählen«, sagte sie. »Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Thomas, denke ich, Sie sollten sich neben den Baum setzen und das Mikrofon benutzen, damit alle zuhören können.«
    »Es macht mir nichts aus«, sagte er, schob seinen Stuhl zurück und legte die Leinenserviette neben seine dampfende Kaffeetasse. Er ging um den Tisch herum. Die Leute rückten ihre Stühle, um ihn sehen zu können. Er nahm das drahtlose Mikrofon und setzte sich auf den Hocker, einen Fuß auf einer Strebe, den anderen am Bo den. Er sah Jessica an. Ihre dunklen Augen flehten ihn an. Tu so, als ob, schienen sie ihm zu sagen, aber die Rede blieb trotzdem in seiner Tasche. Er trug einen Frack, aber das war die einzige Konzession, die er machen würde.
    Er schaltete das Mikrofon ein und hielt es eine Handbreit vor die Lippen. Er hatte schon so viele Reden gehalten, daß diese Haltung ihm zur Gewohnheit geworden war. »Ich habe lange Zeit keine Geschichte mehr geschrieben«, sagte er. Seine Stimme füllte den Saal. Die Gäste rutschten ihre Stühle zurück und hielten ihre Kaffeetassen. Aus ihren Gesichtern ließ sich schließen, daß sie sich darauf freuten, endlich eine gut erzählte Geschichte zu hören. »Geschichten stellen eine etwas schwerfällige Methode dar, etwas auszusagen. Mit Essays kann man das viel besser. Sie definieren eine Moral und bringen einen Standpunkt in klaren Druckbuchstaben zum Ausdruck. Aber manchmal fehlt ihnen der Gefühlsausdruck einer guten Geschichte, und nur die Leidenschaft hilft uns, die Dinge zu ändern.«
    Der Präsident drehte sein Weinglas um, als der Kellner ihm anbot, es wieder aufzufüllen, und zeigte statt dessen auf seine Kaffeetasse, ohne den Blick von Thomas zu wenden.
    »Also werde ich Ihnen heute abend eine Geschichte erzählen. Und, wie bei allen Geschichten, enthält sie auch ein wenig Wahrheit neben allem Erfundenen. Ich bin sicher, diejenigen unter Ihnen, die über sechzig sind, wissen, daß im Monat Dezember keine Atombombentests an der Erdoberfläche stattgefunden haben. Manche Wahrheiten müssen im Interesse der Geschichte ein bißchen verdreht werden. Andere allerdings nicht. Ich denke, Sie werden den Unterschied erkennen.«
    Jessica schüttelte fast unmerklich den Kopf. Thomas sah woanders hin. »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, die meiner Frau nicht gefällt. Es ist eine Weihnachtsgeschichte und sie heißt »Tommy und die Weisen«.«
     
    Jedesmal am Weihnachtsmorgen, jedenfalls bis zum Jahr 1951, las Tommys Vater aus dem Matthäus-Evangelium vor, und dann öffnete die Familie ihre Geschenke. In jungen Jahren erschien ihm dieses Lesen als Tortur, aber als er dann acht war, sah er es als notwendiges Ritual an. Er konnte die Worte aus dem Gedächtnis aufsagen:
    Als nun Jesus geboren war, zu Bethlehem in Judäa, in den Tagen des Königs Herodes, siehe, da kamen Magier aus

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