Frostbite
gehalten. Sie teilte diese Meinung nicht.
Die Stimme ihres Onkels stieg in ihrem Innern auf. Sagte ihr, dass
sie sich in Selbstmitleid erging. Über ihr Schicksal jammerte, statt zu
versuchen, es zu ändern. Sie versuchte mit ihm zu argumentieren, aber das hatte
nicht einmal geklappt, als er leibhaftig vor ihr stand. Er hatte die üble
Angewohnheit, immer recht zu behalten.
»Okay«, sagte Chey schließlich und rieb sich den Nasenrücken. »Okay.
Fuck! Okay.«
Sie stand auf und ging nach draußen auf die Veranda. Auch wenn sie
nicht den geringsten Wunsch verspürte, sich mit ihrer neuen Situation
auseinanderzusetzen, brauchte sie doch dringend Antworten.
Der Schnee zwischen den Bäumen fing
das wenige Sonnenlicht ein, das es an den Ästen vorbei schaffte, und leuchtete
in einem unirdischen Blau. Eiskalte Nebelschwaden schlängelten sich um die
Büsche. Powell war noch immer in seiner Räucherkammer beschäftigt, wie die
aromatischen Dämpfe verrieten, die durch die Türspalte drangen. Hinter dem Haus
wusch Dzo die Ladefläche seines Trucks mit Eimern voller Flusswasser.
Als er sie um die Hausecke kommen sah, schob er die Maske hoch und
lächelte sie an.
»Bin ich hier eine Gefangene?«, fragte sie.
Er runzelte die Stirn. »Nein. Natürlich nicht.«
»Also kann ich jederzeit gehen.«
Kopfschüttelnd lächelte er sie erneut an. »Nein, tut mir leid. Wir
müssten hinter dir her und dich zurückholen. Du könntest jemanden verletzen.«
Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich glaube, da habe
ich eine größere Selbstkontrolle.«
Dzo seufzte. »Ein Wolf – deine Art von Wolf – kann keinen Menschen ansehen, ohne gleich rotzusehen. Eigentlich
ist er bloß ein Tier, aber in der Nähe von Menschen überkommt ihn die Gier. Er
hat dann diesen Blutgeschmack auf der Zunge. Da ist dieser Duft in seiner Nase,
als wäre es Zeit zu essen.« Dzo schüttelte den Kopf. »Wenn du in diesem Zustand
einen Menschen siehst, dann hast du keine Wahl. Innerhalb von zwei Sekunden
bist du von null auf töten .«
»Nein«, erwiderte sie. »Das … das kann unmöglich stimmen. Was ist …
was ist mit dir?«
Dzo starrte sie stumm an.
»Wie lange hängst du schon bei Powell herum?«
Dzo lachte. »Monty? Monty und ich sind alte Kumpel. Seit Jahren.«
Chey nickte. »Und warst du jemals in seiner Nähe, wenn er sich
verwandelte? Wenn er ein Wolf war, meine ich.« Sie musste sich daran erinnern,
wie wortwörtlich Dzo alles zu verstehen pflegte.
»O
ja, klar, viele Male.«
»Also warum hat er dich dann noch nicht umgebracht?«
»Ich bin was Besonderes«, erwiderte er, als sei das völlig klar. »Ich bin völlig sicher. Jeder andere
ist Beute.«
»Jeder … du meinst also, wirklich jeder. Jeder, der ihm über den Weg
läuft.« Ihr Atem ging schneller. In ihrem Knöchel pochte der Phantomschmerz.
»Das ist hauptsächlich der Grund,
warum Monty hier oben lebt.« Er breitete die Arme aus. »Keine Menschen. Bestimmt nicht wegen des warmen Wetters. Du
bist das erste menschliche Wesen, das er seit drei Jahren gesehen hat. Er hat
dich angegriffen, ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, richtig?«
Chey verschränkte die Arme vor dem Körper. Plötzlich war ihr übel.
Sie dachte an den Augenblick auf der Birke zurück. Sie hatte den Hass in den
Wolfsaugen gesehen, das Verlangen zu töten.
Sie hatte diesen Irrsinn aus unmittelbarer Nähe wahrgenommen, auf eine
Weise, die sie nie mehr erleben wollte. »Ich weiß nicht … das kann ich nicht sagen. Mein Gott. Wie kann das nur
geschehen? Welches Virus tut einem Menschen so etwas an?«
Dzo warf die Arme in die Luft. »Du hältst das für eine Krankheit?«
Sie nickte.
»Und da irrst du dich. Es ist kein Virus – es ist ein Fluch. Und wenn ich Fluch sage, dann spreche ich nicht
von irgendeiner uralten Indianergeschichte, die man sich über viele Jahre
hinweg weitererzählt. Wo dann irgendwann ein schlauer Bursche aus McGill hier
rauf nach Norden kommt und verkündet: Aha, es war die ganze Zeit Vitamin-D-Mangel.
Ich spreche von einem Fluch, einem magischen
Zauber. Der größte und schlimmste, den es überhaupt gibt.« Mit einem
Satz sprang er auf die Ladefläche. Dann blickte er ins Leere, als sei er in
eine schlimme Erinnerung versunken. »Du musst wissen, es ist jetzt zehntausend
Jahre her, da …«
Chey schüttelte den Kopf. Sie konnte sich diese Geschichte nicht anhören. »Ich will niemanden
töten«, keuchte sie. Sie glaubte sich übergeben zu müssen. »Eher
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