Frostbite
Handfeuerwaffen oder
zumindest Grabenmesser –, aber sie hatten nicht die geringste Chance.
Lucie hatte die großen Türen an den beiden Saalenden versperrt, und es gab kein
Entkommen. Ich sah später, was von ihnen übrig war – lediglich ein paar
Uniformfetzen und Knochenstücke, an denen noch ein wenig Fleisch hing. Da wurde
mir klar, dass Lucie sich große Mühe gegeben hatte, mich vor diesem Schicksal
zu bewahren. Sie hatte andere Pläne mit mir. Du musst wissen, sie mochte mich.
Ihr gefiel mein Gesicht, und sie wollte mich möglichst lange behalten.
Zumindest bis ich sie langweilte. Sie hatte mich nicht einmal in einen Wolf
verwandeln wollen, jedenfalls nicht sofort – es war einfach nur Pech
gewesen, dass ich im falschen Augenblick nach dem Schlüssel gegriffen hatte.
Sobald ihr Wolf sie übernommen hatte, besaß sie keine Kontrolle mehr über sich
selbst. Die besitzt keiner von uns.«
»Das klingt fast so, als hättest du ihr verziehen!«, rief Chey
überrascht aus.
»Anfangs nicht. Aber im Lauf der Zeit … als der Mond unterging,
kamen die Baronin und Lucie nach unten und ließen mich aus dem Käfig. Ihnen war
sofort klar, was mit mir geschehen war, und sie wussten, dass ich ein Teil
ihrer Familie geworden war. Selbst als ich sie übel beschimpfte und sie zu
töten drohte. Sie wussten es besser. Sie wussten, dass ich alles bald anders
sehen würde.«
»Der Käfig«, sagte Chey. »Warum hatten sie diesen Käfig?«
»Ist dir das noch nicht klar? Lucie war das schwarze Schaf der
Familie. Sozusagen. Einige Zeit vor unserer Begegnung war sie von einem Wolf
verletzt worden. Einige Jahrhunderte vor unserer Begegnung.«
»Was?«
»Die Geschichte, dass der Baron in das Maschinengewehrfeuer geritten
sei, war nur die halbe Wahrheit. Er war
Kavallerieoffizier gewesen. Aber er war in einem ganz anderen Krieg
gefallen, schon im siebzehnten Jahrhundert.
Und Lucie, nun, sie war damals zur Welt gekommen und hatte ihre
Wölfin seit ihrer Kindheit. Sie konnte sich kaum noch an die Zeit erinnern, als
sie ein echter Mensch gewesen war. Sie hat mir erzählt, dass sie den Fluch mit
zwölf Jahren bekam.«
»Das passiert den meisten Mädchen«, meinte Chey.
Einen Moment lang wirkte Powell verwirrt. Dann errötete er und
schüttelte den Kopf. »Ach, verflixt, du weißt, dass ich etwas anderes damit
gemeint habe. Will sagen – da hat sie ihre Wölfin bekommen.«
Chey nickte. Die Zweideutigkeit von Powells Bemerkung hatte sie
einfach zu sehr gereizt, als dass sie sich die Bemerkung hatte verkneifen
können.
»Zu jener Zeit erwartete man von
Mädchen in Lucies Alter, dass sie heirateten. Also stellte man sie der
Creme des französischen Adels vor. Jungen Männern in blauen Seidenanzügen mit
Perücken und geschminkten Gesichtern. Sie verabscheute sie alle. Sie nahmen sie
mit auf die Jagd und gaben ihr einen kleinen Speer, um dessen Spitze man eine
Blumengirlande gewunden hatte. Sie banden einen Fuchs an einen Baum und führten
sie geradewegs zu ihm, damit sie an der Erfahrung teilhaben konnte, mit jungen
Männern auf die Jagd zu gehen. Sie bedankte sich überschwänglich bei ihnen und
durchtrennte dann äußerst charmant und gewitzt – so erzählte sie
jedenfalls – den Strick des Fuchses mit dem Speer. Der Fuchs erkannte
seinen Vorteil und ergriff die Flucht. Sie folgte ihm und ritt so schnell, dass
ihre Begleiter nicht mithalten konnten. Sie folgte dem Tier über die Hügel und verließ den Grundbesitz ihres Vaters,
aber es machte ihr so viel Spaß, dass sie keinen Gedanken daran verschwendete.
Als sie das Tier endlich in die Enge getrieben hatte, als sie ihn einfangen und
zu ihrem Haustier machen wollte, stürmte plötzlich ein riesiger Wolf aus dem
Unterholz hervor und schnappte sich den Fuchs. Lucie trieb ihr Pferd an und
floh, aber erst nachdem der Wolf ihr riesige Fetzen vom Rücken und von den
Armen abgebissen hatte.
Ihre Familie fand sie mit den eigenen Zügeln an ihren Sattel
gefesselt. Sie war eine zähe kleine jeune fille , das
kann man nicht anders sagen. Man schickte nach Ärzten, die aber nichts anderes
tun konnten, als sie ins Bett zu bringen, denn sie gingen davon aus, dass sie
die Nacht nicht überleben würde. Stattdessen verwandelte sie sich.
Ich glaube, sie hat bei diesem ersten Mal jemanden verletzt.
Vielleicht einige Diener getötet. Sie wollte sich dazu nicht äußern. Sie
erzählte mir, dass sie sich eigentlich den Behörden stellen wollte. Aber wären
die Menschen über ihren Zustand
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