Frostbite
in Kenntnis gesetzt worden, hätte das Schande
über ihre Familie gebracht. In jener Epoche verbrannte man überall in
Frankreich und Deutschland Werwölfe auf dem Scheiterhaufen, und einige waren
sogar echt. Hätte der Verdacht die Runde gemacht, was wirklich geschehen war,
dann wäre der Feuertod auch ihr Schicksal gewesen. Stattdessen suchte sie ihre
Mutter auf, die erste Baronin, die sich alles genau anhörte, auf der Stelle den
Verstand verlor und sich im Fluss ertränkte. Ein Verwandter der Familie blieb
lange genug geistig gesund, um diesen Käfig bauen zu lassen. Er bestimmte auch,
wie man Lucies Geheimnis bewahrte. Jeden Tag sperrte man sie zwölf Stunden lang
ein und wartete auf den Monduntergang. Die ganze Zeit über warf sie sich gegen
die Gitterstäbe, aber sie kam nicht frei, sosehr sie sich auch bemühte. Über
Generationen musste ein Mitglied der weiblichen Linie ihrer Familie sich um sie
kümmern, bei ihr sitzen und für ihre Seele beten. Die Mutter gab diese Pflicht
an die Tochter weiter, die sie an ihre Tochter weitergab und so weiter. Die
Baronin, der ich begegnete, war die letzte dieser Dienerinnen.
Als der Krieg ausbrach und das Schloss von der Familie aufgegeben wurde, konnte man Lucie natürlich
nicht mitnehmen. Es sei denn, man hätte den Militärbehörden erklärt, warum man
ein hübsches nacktes Mädchen in einem
außerordentlich kostbaren Käfig einsperrte. Die Baronin hatte sich
freiwillig zur Verfügung gestellt, bei Lucie zu bleiben und sie zu betreuen.
Aber in dem Augenblick, als die beiden allein war, schlug Lucie einen Handel
vor.
Die Baronin hatte die Wölfin jahrelang beobachtet, und sie wünschte sich, ebenfalls zu einer Wölfin zu
werden. Wie schon gesagt, sie war so verrückt wie eine Katze in der Badewanne. Aber sie wusste, was sie
wollte. Sie wollte diese Kraft und Macht. Sie behauptete, dass Käfige
nicht mehr erforderlich seien, dass Lucie ab sofort frei sei. Inmitten der
Anarchie des Kriegs könnten sie zusammen im Rudel jagen. Lucie könne frei
herumlaufen und nach Herzenslust auf die Jagd gehen. Sie war verrückt genug und
glaubte, dass dies ihre wahre Bestimmung darstelle. Lucie war verrückt genug
und begeisterte sich für den Plan. Also setzten sie ihre Vorstellung in die Tat
um. Lucie war die Urururgroßtante der Baronin, und als ich sie kennenlernte, hatte sich die Frau gerade erst das zweite Mal verwandelt.
Sie musste noch lernen – so wie ich dich unterrichtete –, nur dass
Lucie der Ansicht war, sie müsse größeres
Wild jagen. Also brachte sie meine Kameraden mit nach Hause, damit die
Baronin etwas zum Spielen hatte.«
»Aber warum hat Lucie dich dann beschützt?«, wollte Chey wissen.
Powells Schultern spannten sich an. »Weil die beiden einen Gefährten
haben wollten.«
17 Dzos
Truck rollte ohne Unterbrechung der kleinen Hütte entgegen. Chey fragte sich,
wie weit sich die Wölfe eigentlich von dort entfernt hatten. Das Licht
veränderte sich bereits, der Tag entglitt ihnen. Powell schien die Zeit nicht
wahrzunehmen. Er hatte kaum einen Blick für seine Begleiterin übrig, während er
erzählte. Die vielen Jahre, die Chey in Bars herumgehangen hatte, hatten sie
mit dem Ausdruck auf seinem Gesicht vertraut gemacht – er war einsam. Seit
Jahren hatte er mit niemandem außer Dzo gesprochen. Er verspürte ein großes
Bedürfnis, seine Geschichte zu erzählen, und es wäre wirklich grausam gewesen,
ihn zum Aufhören aufzufordern oder ihn allzu oft zu unterbrechen.
Also ließ sie ihn reden.
»Ich glaubte die Regeln zu kennen. Ich glaubte begriffen zu haben,
wozu ich geworden war, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Ich vermute,
dass Kinder sich heutzutage keine Geschichten
über Werwölfe mehr erzählen, wenn ihre Eltern nicht zuhören. Als ich
noch ein Junge war, gehörte dies zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Wer konnte
die anderen Kinder mit der grausamsten,
schlimmsten Geschichte erschrecken, mit dem schauerlichsten Geheul, bei
dem den anderen das Blut in den Adern gefror? Als Lucie und die Baronin mich
also einsperrten, konnte ich mir denken, was sie wollten. Sie wollten mich
fressen. Warum sie sich vorher die Mühe
machen sollten, mich in einen von ihrer
Art zu verwandeln, darüber zerbrach ich mir nicht den Kopf. In den
ersten Tagen erinnerte ich mich vor allem daran, was meine Jugendfreunde mir
über Lykanthropen erzählt hatten.
Wölfe wie uns gab es in Europa seit Tausenden von Jahren.
Ursprünglich ging man davon aus, dass es so
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