Frostbite
in der Windschutzscheibe, eine
Brise, die die Feuchtigkeit auf Cheys Gesicht berührte. Sie setzte sich halb
auf und blickte nach vorn.
Draußen riss der Wolf im Licht der Scheinwerfer an dem Körper ihres
Vaters. Biss Stücke von ihm ab und schlang sie gierig hinunter. Fraß ihn. Dann
sah der Wolf mit blutverschmiertem Antlitz auf. Nur die winterkalten Augen
waren klar. Diese hasserfüllten Augen starrten unverwandt in Chey hinein,
beurteilten sie und erklärten sie für unzureichend. Verabscheuten sie.
Nur eine Minute , sagten diese Augen, dann bin ich fertig. Dann
bist du dran .
22 Ihr
Vater … ihr Vater war tot. Tot. Er war … er war tot.
Es war wie der Augenblick, in dem
ein Flugzeug landet und der Druck in den Ohren so stark wird, dass man
nichts mehr hört. Dann knacken die Ohren, und alles stürmt wieder auf einen
ein. Die Zeit bewegt sich weiter, und alles ist real.
Chey schrie ununterbrochen. Sie schlug die Hände vor die Augen,
damit sie nichts sehen musste, presste das Gesicht gegen die Schultern.
Schrie.
Es änderte nichts. Es half auch nichts. Der Atem schoss ihr zischend
aus den Lungen, aber sie saß einfach nur da. Saß einfach nur da und tat nichts.
Sie würde sterben. Der Wolf würde
sie gleich in Stücke reißen und … und …
Noch immer schreiend löste sie den Sicherheitsgurt, aber zumindest
bewegte sie sich. Erreichte etwas. Sie würde die Tür öffnen, ganz langsam, und
aussteigen. Und dann würde sie so schnell rennen, wie sie nur konnte.
Sie würde so lange rennen, bis sie jemanden fand, einen Menschen, der ihr half. Einen Menschen, der
alles wieder in Ordnung brachte. Irgendwie. Es war unnötig, sich um die
Einzelheiten zu sorgen, wie überhaupt jemals wieder etwas in Ordnung kommen
sollte, denn wenn sie diese Person fand, diesen guten Samariter, würde der alle
Antworten kennen. Sie musste bloß aussteigen und loslaufen.
Aber so würde das nicht gelingen, oder? Sie konnte so schnell
laufen, wie sie es schaffte, und es würde nicht reichen. Das wusste sie. Der
Wolf ließ sie nicht einfach entkommen. Der Wolf würde sie überholen. Er würde
sie einfangen und erledigen.
Das und nichts anderes wollte der Wolf. Und der Wolf hatte die
Macht. Er hatte diese Zähne, und er hatte Krallen, und er hatte Millionen von
Jahren der Evolution auf seiner Seite. Er fiel ihm leicht, kleine Mädchen in
der Dunkelheit zu jagen und in Stücke zu reißen. Das war einer der Gründe,
weshalb Menschen das Feuer erfunden hatten, weshalb sie Gewehre besaßen und
Städte erbauten – um sich auf diese Weise zu schützen. Vor den Ungeheuern der
Finsternis.
Ihr stand nichts dergleichen zur Verfügung. Spielte sie dieses
Spiel, so wie der Wolf es spielte, würde sie sterben.
Aber es musste eine andere Lösung geben. Etwas anderes als einfach loszulaufen. Wieder dachte Chey
an die imaginäre Person in der Nacht, die alles in Ordnung bringen würde. Diese
Person war zu weit weg, um ihr helfen zu können. Sie musste sich selbst helfen.
Was bedeutete, dass sie zu allererst einmal nachdenken musste. Sie
durfte nicht mehr schreien, damit sie ihre eigenen Gedanken hören konnte.
Irgendwie fand sie in ihrem Innern die Kraft, das Schreien einzustellen.
Als ihr das gelungen war, hörte
sie auch wieder andere Geräusche. Wie diese riesigen Zähne Knochen zersplitterten. Da hätte sie beinahe wieder
losgeschrien. Sie brauchte etwas … sie musste irgendetwas finden, das
sie davon abhielt, wieder zu schreien. Das ihr denken half. Sie sah sich um,
nahm das zerbrochene Glas und die zerrissenen Vinylpolster wahr.
Sie betrachtete das viele Blut auf dem Fahrersitz. Das Blut ihres
Vaters. Der Sicherheitsgurt hing schlaff herunter und lag in dem Blut. So viel
Blut.
Ihr kam ein Gedanke. Es war keine brillante Eingebung, kein genialer
Geistesblitz. Aber es war ein guter, solider Einfall in einem Augenblick, als
ihr Gehirn kaum funktionierte, also klammerte sie sich daran wie ein Bergsteiger an den letzten, schlecht gesetzten Haken,
weil er sonst in den Abgrund stürzen würde.
Beim nächsten Schritt ging es darum, sich zu einer Bewegung zu
überwinden. Ihren Plan in die Tat umzusetzen. Sie zitterte am ganzen Leib,
dabei war ihr nicht einmal besonders kalt. Sie rutschte auf die Fahrerseite,
streckte die Beine in den Fußraum.
Chey war zwölf – sie hatte
noch nie zuvor einen Wagen gesteuert, hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie
dabei vorgehen musste. Aber sie hatte Videospiele gespielt, in denen
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