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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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kletterte sie auf einen Baum, um sich umzusehen. Mit
ihrer neuen Kraft fiel ihr das bedeutend leichter als seinerzeit die Flucht vor
Powells Wolf. Aber der Blick aus den Baumwipfeln zeigte ihr nichts, nur weitere
chaotisch wuchernde Bäume.
    Die Straße schien kilometerlang zu sein. Nach einer Zeit, die sich
wie Stunden anfühlte, glaubte Chey einen Fehler gemacht zu haben, dazu verdammt
zu sein, auf der Holzfällerstraße umherzuirren, bis sie sich wieder
verwandelte. In dem Augenblick, als der Mut sie gänzlich verließ, blieb sie stehen
und spähte ein letztes Mal nach oben. Und entdeckte zwischen zwei Bäumen endlich das Gesuchte. Eine gedrungene Baracke hoch oben
auf einem Gerüst aus verrosteten Stahlstangen. Einen Turm – einen
Feuerturm. Er bot nicht viel, aber es gab vier Wände und ein Dach. Sie rannte
los und nahm zwei der wackeligen Stufen auf einmal.

35   Chey entdeckte die Grenzen ihres neuen Reichs
ziemlich rasch. Der Feuerturm bestand aus einem einzigen quadratischen Raum,
dessen Wände jeweils sechs Meter lang waren. Das Schrägdach bestand aus Holz,
und durch seine Spalte sah sie die Sonne. Grüne Farbe blätterte von den Wänden
ab. Auf Hüfthöhe war ein Stück ausgeschnitten, das man wie einen Schlagladen
nach innen hochklappen konnte. Wände, Boden und Decke waren mit Graffiti aus Blockbuchstaben
übersät, die man mit Taschenmessern ins Holz geschnitzt hatte. Nur wenig davon
war lesbar oder ergab überhaupt einen Sinn – größtenteils handelte es sich
um Namen und Daten, vermutlich die Hinterlassenschaft von Männern, die hoch
über den Bäumen einsam Wache gehalten und dafür gesorgt hatten, dass nicht alle
einem Waldbrand zum Opfer fielen. Chey öffnete einen der Schlagläden, obwohl er
einen kalten Luftschwall einließ und sie noch mehr fröstelte. Sie warf einen
langen Blick auf die Umgebung, die auch ihre Vorgänger von dem Turm aus gesehen
hatten. Der betrunkene Wald hob und senkte sich ringsum wie ein mitten in einer
Welle erstarrtes Meer. In der Ferne funkelte Licht auf einer Wasserfläche, aber
sie vermochte nicht mit Sicherheit zu sagen, ob es sich um den See handelte, an dem Bobby sein Lager aufgeschlagen
hatte. Powells Hütte war nirgendwo in Sicht. Außerdem fehlten ihr die
Anhaltspunkte – abgesehen von diesen beiden Stellen war der Wald eine
wogende Masse wie ein Einzeller, eine Entität ohne Grenzen oder Form. Sie ließ
den Schlagladen fallen, und er krachte mit solchem Getöse zu, dass sie
zusammenzuckte.
    Eine große Truhe an der einen Wand erwies sich als verschlossen.
Chey zog an den Riegeln, aber die Schlösser bewegten sich nicht, waren möglicherweise
eingerostet. Chey atmete tief durch – sie konnte nicht zulassen, dass sich
ihr selbst das nichtigste Geheimnis in den Weg stellte. Dann setzte sie ihre
ganze wolfsgegebene Kraft ein und riss die Truhe so heftig auf, dass die
Einzelteile des Schlosses durch den Raum flogen.
    Die Truhe enthielt Kerosinlampen (ohne Kerosin),
Streichholzschachteln, Teller und Tassen aus Blech sowie andere Campingutensilien. Darunter fand sie einen alten Pullover mit einem hässlichen Riss an einem Ärmel,
in den sie sich hineinkämpfte. Er war viel zu groß für sie und reichte ihr bis
zur Mitte der Oberschenkel. Wie wild durchwühlte sie den übrigen Truheninhalt
und suchte nach weiterer Kleidung, aber da war nichts zu finden. Es gab ein
paar alte Bücher, die muffig rochen. Als Chey einen Band zur Hand nahm, war der
Umschlag feucht und verschimmelt. Die Seiten waren zu einem matschigen dicken
Block verschmolzen.
    Auf der anderen Zimmerseite standen ein Tisch und zwei Klappstühle.
Unter dem Tisch befand sich eine große Steckdose – vielleicht hatte hier
einst ein Funkgerät gestanden –, von der Decke hing eine einsame
Glühbirne, aber es gab keinen Strom. Bei geschlossenen Schlagläden war der Raum
finster und bedrückend. Waren sie offen, pfiff der Wind durch den Raum und
schnitt bis auf die Knochen. Chey fand einen Mittelweg, indem sie einen
Schlagladen bis zur Hälfte öffnete. Dann setzte sie sich auf einen der Stühle.
Er ächzte selbst unter ihrem recht leichten Gewicht – seit Jahren nagte
der Rost an den Scharnieren.
    Wenn sie ganz still dasaß, erzeugte sie keinen Lärm. Versuchsweise
zog sie die Füße unter sich und saß beinahe in der Lotosposition. Sie zog den
Pullover über die Knie und dehnte ihn.
    Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie nun tun sollte. Falls
Bobby und Lester tot waren, falls Powell

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