Frostbite
Öl und Wölfe. Timberwölfe – nicht
ihr Rudel. Nicht einmal ihr Volk.
Trotzdem …
Sie schnüffelte am Rand eines Rohrs entlang. Nicht die Neugier trieb
sie an, auch nicht der verlockende Geruch. Das war ein von Menschen gemachter
Gegenstand, und darum hasste sie ihn. Hasste ihn, hasste ihn, hasste ihn. Das
war das Gesetz, die eiserne Regel ihrer Existenz. Sie brauchte keinen weiteren
Anlass für ihren Hass. Es reichte bereits, dass Menschenhände das Rohr berührt
hatten, dass es Teil ihrer Welt war. Aber es bewegte sich nicht und bot auch
keinen Widerstand. Also ließ sie sich Zeit.
Oben war das Ding offen und dunkel. Sie spähte hinein, aber ihre
Augen zählten nicht zu ihren schärfsten Sinnen. Sie legte eine Pfote an den
Rand.
Dann krümmte sie sich und versenkte die scharfen Zähne in das
nachgiebige weiße Zeug, trieb sie tief hinein und riss mit ihren kräftigen
Halsmuskeln daran.
Das Rohr fuhr mit einem Laut wie ein Donnerschlag aus dem Boden.
Etwas rasend Schnelles schoss an ihrer Wange vorbei und flog in die Finsternis.
Sie schleuderte das Rohr von sich und tänzelte rückwärts. Vom Lärm, der das Ding
verursacht hatte, brannten ihr die Ohren.
Ihre Schnauze öffnete sich, die Zunge kam hervor und schmeckte die
Luft.
Was war das, was, was, was, was war das?
Jemand spielte ihr einen Streich. Sie knurrte und biss zornig in die
Luft. Menschen – Menschen hatten dieses Rohr aufgestellt, um sie
vielleicht bloß abzulenken. Aber vielleicht steckte auch eine finsterere
Absicht dahinter.
Menschen. Menschen hatten sie eingesperrt. Hatten versucht, sie zu
brechen, hatten versucht, ihren Verstand zu zerstören. Vielleicht hatten sie
sogar einen gewissen Erfolg gehabt.
Jetzt war sie frei. Sie wusste nicht, wie es geschehen war. Aber sie
wusste, dass sie nach Vergeltung dürstete und Menschenblut schmecken wollte.
Sie roch die Menschen. Ihr Duft
klebte an den Baumstämmen, ihr Schweiß bedeckte tropfenweise den Boden.
Sie folgte der Spur und wollte es ihnen zeigen – ihnen zeigen, mit wem sie
es zu tun hatten.
Die Wölfin fand das Lager. Sie
stieß ein Heulen aus und verbiss sich in einer Bettrolle. Sie stieß die
Kerosinlampen um und riss an den Zelten. Überall lauerte der Gestank der
Menschheit, überall, ringsum. Sie waren da gewesen. So nahe! Wie hatten sie nur
so nahe an sie herankommen können?
Sie würde sie vernichten. Sie hatten ihr geschadet … hatten …
irgendetwas mit ihr gemacht. Sie war sich nicht sicher, was es gewesen war,
aber sie hatten etwas mit ihr angestellt … sie eingesperrt. Sie erinnerte sich
an ihr hungergepeinigtes Heulen. Dachte an die Qualen.
Sie würde sie in Stücke reißen. Sie würde nach ihren Kehlen schnappen
und …
Die Menschen waren verschwunden. Die Reste ihres Feuers wärmten noch immer den Boden, aber sie waren
verschwunden. Sie waren aufgebrochen, Richtung Sonnenuntergang. Die
Wölfin spürte ihren Weg, als wäre es ein auf den Waldboden gemalter Pfeil aus noch nicht vergossenem Blut. Blut, das ihr gehörte.
Ihr Blut, ihr Blut, es gehörte ihr, sie wollte es auflecken. Es stand
ihr zu. Ihr Blut.
Die Wölfin rannte los und folgte
der Spur. Lief durch den Sonnenaufgang und den größten Teil des Tags.
Unter ihren Pfoten spritzte Wasser auf, ihre Zunge leckte am Moos
und an den Schlingpflanzen, die auf den nackten Steinen verrotteten. Über ihr
schienen sich die Bäume zu teilen und den Weg freizugeben. Der Mond, eine
schmale Sichel wie eine Messerklinge, salbte ihr Fell und ihre Augen, während
sie über Baumwurzeln und durch unwegsames Gelände hetzte. Sie gelangte an einen
seichten Teich und wurde nicht langsamer. Das eiskalte Wasser verteilte sich in
Form runder Tropfen in ihren Haaren, ihre Pfoten berührten glitschige Steine,
und vor den tausend kleinen Erschütterungen ihres Laufs schossen die Fische
davon. Stundenlang rannte sie und ermüdete nicht, denn am Ende ihres Wegs
wartete das Blut. Das Blut, das nur sie vergießen durfte.
Sie spürte sie vor sich. Der Mensch, der sie angekettet hatte –
ja, nach und nach fiel es ihr wieder ein. Es war mühsam, die Männer
auseinanderzuhalten, aber sie wusste, dass einer dabei war, der war etwas ganz
Besonderes. Er wartete auf sie. Jener, der sie eingesperrt hatte. Er war da,
und mit ihrer hängenden Zunge schmeckte sie ihn, und dann, dann …
Zwischen den Bäumen blubberte ein Mensch schrill vor Furcht. Das
Blut jagte ihr eiskalt durch die Adern, von Gier getrieben. Der Mensch hielt
sich ganz
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